Der Pestengel von Freiburg
Heinrich wollte Familienrat halten. Er war inzwischen felsenfest davon überzeugt, dass die tödliche Seuche ihre Stadt erreicht hatte und sie bald schon fest in den Klauen halten würde.
Clara hatte alle Mühe, bei ihren täglichen Verrichtungen gegen die aufsteigende Angst anzukämpfen. Den Freiburgern indessen war nichts anzumerken, als sie jetzt, kurz vor dem abendlichen Angelusläuten, die Stadt durchquerte. Alte und Junge saßen bei ihrer Arbeit auf der Gasse, vor den weitgeöffneten Läden ihrer Werkstätten oder Wohnstuben, plauderten,scherzten, lachten. Sie genossen die frische, gereinigte Luft und schienen nichts zu ahnen von der drohenden Gefahr.
Wie sollten sie auch? Der Rat der Stadt hatte Heinrich heute früh einen Maulkorb verpasst, hatte ihn nachhaltig davor gewarnt, irgendwelche unhaltbaren Lügen zu verbreiten. Bei den jüngsten Todesfällen handle es sich nämlich lediglich um das bei diesem Wetter durchaus übliche hitzige Fieber, um eine heftige Form des Sommerkatarrhs also. Als Heinrich dennoch darauf gedrängt hatte, zur Vorsicht alle Neuerkrankten abzusondern, am besten in einem Haus vor der Stadt, wie man es seit Jahr und Tag mit den Leprösen draußen auf dem Feld hielt, und darüber hinaus die Kirchweih zum Ende des Monats abzusagen – da hatte man ihm schlechterdings das Maul verboten. Ob er von allen guten Geistern verlassen sei, hatte Bürgermeister Ederlin ihn angeschnauzt, die Bürger und Hintersassen solchermaßen in Schrecken zu versetzen? Der Todesstoß gegen Handel und Handwerksfleiß sei es, einen solchen Verdacht in Richtung Pestilenz auch nur auszusprechen. Zumal es wegen einer Handvoll Kranker zu diesem Verdacht gar keinen Anlass gebe. Der gesamte Rat der Vierundzwanzig hatte hierzu genickt, am heftigsten der Stadtphysicus selbst.
Außer sich war Heinrich von der Sitzung heimgekehrt. Diese feigen Hunde, hatte er geschimpft. Steckten den Kopf in den Sand und hofften, dass das Große Sterben über sie hinwegrollen werde, ohne einen von ihnen zu treffen. Sechs Menschen hier in der Stadt waren bis jetzt nahezu gleichzeitig auf dieselbe blitzschnelle Art dahingerafft worden. Zwar hatte Gevatter Tod seither innegehalten, dafür aber gab es nun, wie Heinrich wusste, einige Krankheitsfälle, zu denen ausdrücklich Meister Arbogast gerufen wurde und er keinen Zutritt hatte. Und wie es um die Bewohner des Gutleuthauses stand, war miteinem Mal nicht mehr herauszufinden – auf seine Anfragen hin erhielt er von Johans Malterer, dem Schaffner der Einrichtung, schlichtweg keine Antwort.
Als Clara auf den Kirchplatz einbog, sah sie ihren Ältesten schon von weitem, umringt von Michel, Eli und Jossele. Die drei Knaben kamen oft hier heraus, und Clara ahnte, wie sehr es gerade Michel schmerzte, dass sein großer Bruder sich nicht mehr zu Hause blicken ließ. Lautlos trat sie hinter die Kinder und beobachtete Benedikt bei seiner Arbeit an einer Konsole, die von Weinblättern umrankt wurde. Stück für Stück formte sich der Sandstein unter seinen sicheren Schlägen.
«Wie schön das wird», sagte sie voller Bewunderung.
Benedikt fuhr herum.
«Was tust du hier?»
«Vater will dich sehen.»
«Warum kommt er dann nicht selbst?»
«Weil ich mich angeboten hatte, dich zu holen. Deshalb.»
«Ich bin noch nicht fertig mit der Arbeit.»
«Dann warte ich eben.»
Sie setzte sich auf einen rohen Steinquader, der im Schatten lag, und ließ ihren Blick über den mächtigen und zugleich so anmutigen Kirchenbau schweifen. Auch der zweite Chorturm war nun beinahe fertiggestellt, ihm fehlte nur mehr der Helm, und an der Südseite des Chores hatte man mit dem Anbau der neuen Peter-und-Pauls-Kapelle begonnen. Wieder erfüllte sie ein unbändiger Stolz auf Benedikt, dass er mit seiner Hände Arbeit zur Pracht dieser Kirche beitrug.
«Gehen wir!»
Vor ihr schob sich Benedikts schlanke Gestalt gegen die Abendsonne. Sie stand auf.
«Wo sind die Kleinen?»
«Sind schon vorausgegangen.»
Schweigend machten sie sich auf den Weg. Dabei würdigte sie ihr Sohn keines Blickes. «Wie geht es dir?», fragte sie schließlich. «Bist du gesund? Hast du alles, was du brauchst?»
«Ja, Mutter!», gab er zurück, in solch barschem Tonfall, als wolle er sagen: Geht’s dich was an?
Sie stieß einen kleinen Seufzer aus und schwieg den Rest des Weges.
Zu Hause hatte Johanna bereits das Nachtessen gerichtet. Nachdem sie Gott für seine Gaben gedankt hatten, eröffnete Heinrich mit ernstem Gesicht die Mahlzeit.
Weitere Kostenlose Bücher