Der Pestengel von Freiburg
ja.» Heinrich seufzte. «Aber ich mach mir eben Sorgen um euch, so ganz allein mitten im Wald. Außerdem hat es nichts mit Feigheit zu tun, dass ihr geht, sondern ist das einzig Vernünftige. Dass er immer so stur sein muss!»
«Wir sind ja nicht in der Fremde», beschwichtigte Clara ihn, «sondern grad mal einen Spaziergang entfernt von hier. Außerdem haben wir dieses Ungetüm zu unserem Schutz.»
Das Ungetüm war ein räudiger Hofhund, den Heinrich heute angeschleppt hatte. Doch wie sie jetzt so neben Heinrich, in der Wärme des gemeinsamen Bettes lag, wusste Clara nicht, ob sie mit diesen Worten ihren Ehegefährten oder sich selbst zu beruhigen suchte.
Als Heinrich ihr heute Mittag eröffnet hatte, sie müsse zusammen mit den Kindern die Stadt verlassen, war sie zunächst aus allen Wolken gefallen. Nur wegen einiger plötzlicher Todesfälle sollte sich die Familie trennen? Aber Heinrich hatte nicht viele Worte gebraucht, um sie zu überzeugen. Er sprach aus, was niemand, nicht einmal die Stadtoberen, auszusprechen wagten: Die Pestilenz war in Freiburg angekommen, und im nahen Basel gab es bereits Dutzende von Toten. So gerne auch sie die Augen vor dieser Tatsache verschlossen hätte, musste sie doch auf Heinrichs Erfahrung und Urteilsfähigkeit als Heilkundiger vertrauen. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass Freiburg von größerem Übel verschont würde und sie bald schon zurückkehren könnten. Zwei, drei Sommerwochen auf diesem schönen Fleckchen Erde wären so schlimm schließlich auch nicht. Hatte sie doch dort mit Heinrich, als sie beide noch jung und närrisch waren, die herrlichsten heimlichen Stunden verbracht.
Clara kuschelte sich an seine Seite. «Erinnerst du dich, als uns dort oben ums Haar der Waldschütz erwischt hätte? Und wie wir uns dann im Bachbett unter dem Haselstrauch versteckt hatten und hernach klatschnass nach Hause mussten?»
Heinrich lachte leise. «Und ob! Dort oben im Wald haben wir schließlich Benedikt gezeugt. Noch vor der Hochzeit.» Er streichelte ihren Nacken. «Und alle Welt hat geglaubt, Benedikt sei vorzeitig auf die Welt gekommen.»
«Deine Mutter doch nicht. Die hat es immer gewusst. Ach, Heinrich – das Einzige, was ich kaum aushalten werde, ist, ohne dich zu sein. Wir waren seit unserer Hochzeit noch nie voneinander getrennt.»
«Glaube mir: Wüsste ich was Besseres, um euch zu schützen, so würde ich es tun.»
Schweigend lagen sie nebeneinander. Von draußen klang die Stimme des Nachtwächters herauf, der die letzte Stunde ausrief. Clara hing ihren Gedanken nach. Auch sie wollte ihre Kinder keiner Gefahr aussetzen. Nur – ergab es wirklich Sinn, die Stadt zu verlassen? Was wussten sie schon über diese grauenhafte Krankheit? Weder, wie sie entstand, noch, wie sie zu Ende ging. Nur dass sie sich über Miasmen verbreitete, vergiftete Luftschwaden, die sich über große Landflächen hinweg ausbreiteten. Und deren Verlauf möglicherweise von den Gestirnen gelenkt war.
«Warum nur», fragte sie leise, «sollten wir oben auf dem Wald sicherer sein als hier, in unseren vier Wänden?»
«Eben das ist die Frage.» Heinrichs Stimme klang mit einem Mal müde und erschöpft. «Weißt du, wie du mich die letzten Tage gescholten hast, weil ich mir die Nächte bei teurem Kerzenlicht um die Ohren geschlagen habe? Da habe ich Berichtestudiert über die Seuchen in alten Zeiten und über die Sterbensläufe in Italien. Auf zweierlei bin ich immer wieder gestoßen. Zum einen, dass die Seuche häufig an kalten Tagen ein Ende findet, zum andern, dass unsere herkömmliche Ansicht von riesigen Giftwolken überdacht werden muss. Wie kann es beispielsweise sein, dass unter derselben verpesteten Luftschicht die eine italienische Stadt einem Totenfeld glich, ihre nahe Nachbarstadt hingegen verschont blieb?»
«Davon hast du gelesen?»
Heinrich nickte. «Auch von zwei arabischen Ärzten, die der Ansicht sind, dass nicht Luftschwaden und Gestirne den Verlauf beeinflussen, sondern wie dichtgedrängt die Menschen miteinander leben. Desgleichen, wie gesund oder ungesund sie zuvor gelebt haben. Und sie nehmen an, dass die Krankheit sehr rasch ausbricht. Nach einigen Stunden oder wenigen Tagen schon.»
«Dann ist das mit dem Pesthauch also Unsinn?»
«Wohl nicht ganz. Ich bin überzeugt, dass etwas Unfassbares, Unsichtbares die Krankheit weiterträgt. Nur glaube ich nicht, dass sich der Gifthauch droben in einer Luftschicht ausbreitet, sondern ganz nah bei uns, von Mensch zu Mensch. Genau
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