Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
werdende Ebene. Das kleine Feuer, das neben Hoids Felsbrocken brannte, verbreitete ein flüchtiges Licht; die Kohlen glommen rot.
»Es war schön, mit dir zu sprechen«, sagte Kaladin. »Jetzt muss ich aber gehen …«
»Nicht, bevor ich dir etwas gegeben habe.« Hoid hob seine Flöte hoch. »Warte noch, bitte.«
Kaladin seufzte. Er hatte das Gefühl, dass ihn dieser seltsame Mann nicht eher gehen ließ, als bis er mit ihm fertig war.
»Das ist eine Pfadsucherflöte«, sagte Hoid und betrachtete das dunkle Holzstück. »Sie sollte von einem Erzähler gespielt werden, während er seine Geschichten zum Besten gibt.«
»Du meinst, sie sollte einen Geschichtenerzähler begleiten. Sie soll von jemand anderem gespielt werden, während er spricht.«
»Eigentlich habe ich genau das gemeint, was ich gesagt habe.«
»Wie soll denn jemand eine Geschichte erzählen können, während er Flöte spielt?«
Hoid hob eine Braue und setzte die Flöte dann an seine Lippen. Er spielte sie anders als die Flöten, die Kaladin bisher gesehen hatte. Anstatt sie vor sich und nach unten zu halten, hielt Hoid sie seitwärts und blies über sie. Er probierte einige Töne aus. Sie klangen genauso melancholisch wie jene, die Kaladin zuvor gehört hatte.
»Diese Geschichte«, sagte Hoid, »handelt von Derethil und der Wandersegel .«
Dann begann er mit seinem Spiel. Die Töne waren rascher und schärfer als jene, die er vorhin gespielt hatte. Sie schienen sogar fast übereinanderzustolpern und kamen aus der Flöte gehuscht wie Kinder, die bei einem Wettlauf unbedingt die Ersten sein wollten. Dabei klangen sie wunderschön und klar, stiegen und fielen auf der Tonleiter und waren so fein ineinander verwoben wie die Fäden eines Teppichs.
Kaladin stand wie gelähmt da. Es war eine mächtige, beinahe beherrschende Melodie – als wäre jede Note ein Haken, der in Kaladins Fleisch eindrang und ihn festhielt.
Hoid hörte ganz plötzlich auf zu spielen, doch die Töne hallten noch in der Kluft wider und kamen zurück, während er sprach. »Derethil ist in einigen Ländern gut bekannt, auch wenn ich seinen Namen hier seltener gehört habe als im Osten. Er war während der Schattentage ein König, aus der Zeit vor der Erinnerung. Er war ein mächtiger Mann, Kommandant von Tausenden, Anführer von Zehntausenden. Groß, königlich im Betragen, gesegnet mit heller Haut und noch helleren Augen. Er war ein Mann, der wirklich zu beneiden war.«
Als die Echos verblassten, setzte Hoid sein Spiel fort und nahm den alten Rhythmus wieder auf. Tatsächlich schien er genau dort wieder einzusetzen, wo die verhallenden Töne allzu leise wurden, so als hätte er die Melodie nie unterbrochen. Die Töne wurden sanfter und deuteten einen König an, der mit seinem Gefolge durch den Hof schritt. Als Hoid spielte, schloss er die Augen und lehnte sich zum Feuer vor. Die Luft, die er über die Flöte blies, fachte gleichzeitig den Rauch an und wirbelte ihn auf.
Die Musik wurde wieder sanfter. Der Rauch drehte sich, und Kaladin glaubte, darin das Gesicht eines Mannes mit spitzem Kinn und hohen Wangenknochen zu sehen. Natürlich gab es da aber gar nichts; es war nur seine Einbildung. Doch das eindringliche Lied und der treibende Rauch schienen seine Fantasie anzufachen.
»Derethil kämpfte gegen die Bringer der Leere in den Tagen der Herolde und der Strahlenden«, sagte Hoid, der die Augen noch geschlossen hatte. Die Flöte befand sich dicht unter seinen Lippen, und das Lied hallte durch die Luft und schien seine Worte erneut zu begleiten. »Als schließlich Frieden herrschte, stellte er fest, dass er aber nicht zufrieden war. Immer wandte sich sein Blick westwärts zu der weiten, offenen
See. Er gab den Bau des besten Schiffes in Auftrag, das die Menschheit je gekannt hatte. Es war ein majestätisches Schiff, das etwas vollbringen sollte, das noch niemand zuvor gewagt hatte. Es sollte einen Großsturm durchsegeln.«
Die Echos verschwammen, und Hoid spielte wieder, als wechselte er sich mit einem unsichtbaren Partner ab. Der Rauch wirbelte auf, stieg hoch in die Luft und drehte sich unter Hoids Atem. Kaladin glaubte beinahe, ein gewaltiges Schiff in einem Dock zu sehen, mit einem Segel, das so groß wie ein Haus und an einem pfeilähnlichen Rumpf befestigt war. Die Melodie klang nun schnell und abgehackt, als wollte sie den Klang der Hämmer und Sägen nachahmen.
»Derethils Ziel«, sagte Hoid und machte eine kleine Pause, »war es, den Ursprung der Bringer der
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