Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
Volk des Großen Abgrunds neigte zu erstaunlicher Grausamkeit. Wenn einer von ihnen etwas Falsches tat – etwas, das auch nur im Geringsten ungehörig oder unvorteilhaft war –, wurde er von den anderen abgeschlachtet. Jedes Mal, wenn Derethil danach fragte, erhielt er von seiner Betreuerin die gleiche Antwort: Unser Herrscher duldet kein Versagen. «
Die hallende Musik verstummte, und wieder einmal hob Hoid seine Flöte genau in dem Augenblick an die Lippen, in dem die Musik so leise wurde, dass sie schon gar nicht mehr
zu hören war. Nun kam eine Melodie, so feierlich wie eine Totenklage. Dennoch war sie voller Mysterien, gelegentlicher Ausbrüche und Hinweise auf dunkle Geheimnisse.
Kaladin runzelte die Stirn, als er den wirbelnden Rauch beobachtete, in dem so etwas wie ein Turm erschien. Er war hoch, schlank und oben offen.
»Derethil fand heraus, dass der Herrscher in einem Turm an der Ostküste der größten Uvara-Insel lebte.«
Kaladin lief es kalt den Rücken herunter. Die Rauchbilder stammten ausschließlich aus seiner eigenen Fantasie und waren doch der Geschichte angepasst, nicht wahr? Oder hatte er diesen Turm tatsächlich schon einmal gesehen, bevor Hoid ihn erwähnt hatte?
»Derethil beschloss, dass er sich dem grausamen Herrscher entgegenstellen musste. Welches Ungeheuer verlangte, dass ein so friedfertiges Volk wie die Uvara so oft und so schrecklich tötete? Derethil versammelte seine Seeleute, eine heldenhafte Truppe, und sie bewaffneten sich. Die Uvara hielten sie nicht auf, auch wenn sie mit Entsetzen zusahen, wie die Fremden den Turm des Herrschers stürmten.«
Hoid verstummte und wandte sich nicht wieder seiner Flöte zu. Stattdessen ließ er die Musik weiter in der Kluft verhallen. Diesmal schien sie länger dort zu verweilen. Es waren lang gezogene, dunkle Töne.
»Derethil und seine Männer kamen kurze Zeit später wieder aus dem Turm und trugen einen ausgedörrten Leichnam in feinen Roben und mit Juwelen behangen heraus. Ist das euer Herrscher?, wollte Derethil wissen. Wir haben ihn im obersten Stockwerk des Turms gefunden – allein. Offenbar war der Mann schon seit Jahren tot gewesen, aber niemand hatte es gewagt, den Turm zu betreten. Sie hatten zu viel Angst vor diesem Herrscher gehabt.
Als er den Uvara den Leichnam zeigte, jammerten und weinten sie. Die ganze Insel wurde in ein Chaos gestürzt. Die
Uvara verbrannten Häuser, machten Aufstände oder fielen einfach nur vor Trauer auf die Knie. Erstaunt und verwirrt stürmten Derethil und seine Männer die Docks der Uvara, wo die Wandersegel repariert wurde. Ihre Führerin und Betreuerin schloss sich ihnen an und bat, mit ihnen fliehen zu dürfen. So kam es, dass Nafti ein Mitglied der Mannschaft wurde.
Derethil und seine Männer setzten das Segel, und obwohl gerade Windstille herrschte, fuhren sie die Wandersegel um den Strudel herum und benutzten dessen Strömung, um von den Inseln wegzukommen. Noch lange nach ihrer Abreise sahen sie Rauch von diesen scheinbar so friedlichen Ländern aufsteigen. Sie versammelten sich auf Deck und sahen zu. Derethil fragte Nafti nach dem Grund für diese schrecklichen Unruhen.«
Erneut schwieg Hoid. Seine Worte stiegen zusammen mit dem seltsamen Rauch auf und verloren sich dann in der Nacht.
»Und?«, fragte Kaladin. »Wie lautete ihre Antwort?«
»Während sie ein Tuch um sich wickelte und mit starrem Blick auf ihre Heimat schaute, erwiderte sie: Verstehst du es nicht, Reisender? Wenn der Herrscher tot ist und auch schon all die Jahre tot war, dann ist er für die Morde, die wir begangen haben, nicht verantwortlich. Sie gehören zu unserer eigenen Schuld. «
Kaladin lehnte sich zurück. Hoids spöttischer, spielerischer Tonfall war verschwunden. Er wollte nicht mehr verwirren. Er wollte nicht mehr höhnen. Die Geschichte war mitten aus seinem Herzen gekommen, und Kaladin konnte nichts mehr sagen. Er saß nur da und dachte an diese Insel und all die schrecklichen Dinge, die sich auf ihr ereignet hatten.
»Ich glaube«, erwiderte Kaladin schließlich und befeuchtete die Lippen mit der Zunge, »ich glaube, das ist Klugheit.«
Hoid hob eine Braue und sah von seiner Flöte auf.
»Es ist Klugheit, wenn man sich an eine solche Geschichte in allen Einzelheiten erinnern und sie mit solcher Sorgfalt erzählen kann«, sagte Kaladin.
»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst«, erklärte dagegen Hoid und lächelte. »Wenn man zur Klugheit nur eine gute Geschichte braucht, dann bin ich bald
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