Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
Leere zu suchen – den Ort, an dem sie geboren worden waren. Viele schalten ihn einen Narren, aber er konnte sich nicht im Zaum halten. Er taufte das Schiff auf den Namen Wandersegel und stellte eine Mannschaft aus den tapfersten Seeleuten zusammen. An einem Tag, an dem sich ein Großsturm zusammenbraute, legte das Schiff zum ersten Mal ab. Es glitt auf das offene Meer hinaus; das Segel flatterte wie Arme, die sich dem Sturm öffneten …«
Die Flöte war rasch wieder an Hoids Lippen, und mit einem Fußtritt gegen ein Stück Steinknospenborke fachte er das Feuer an. Funken und Rauchwölkchen stiegen in die Luft, während Hoid den Kopf senkte und mit den Löchern der Flöte auf den Rauch wies. Das Lied wurde gewalttätig, stürmisch, die Töne fielen unerwartet und trillerten wellenartig. Sie stiegen die Tonleiter so weit hinauf, dass es kreischte.
Und Kaladin sah es vor seinem geistigen Auge. Das gewaltige Schiff erschien plötzlich ganz winzig vor der ungeheuren Macht des Großsturmes. Es wurde hin und her geblasen und auf das endlose Meer hinausgeschleudert. Was hatte dieser Derethil zu finden gehofft oder erwartet? Ein Großsturm war doch schon an Land furchtbar genug. Aber auf See?
Die Klänge hallten von den Wänden wider. Kaladin spürte, wie er auf die Felsen niedersank und den wirbelnden Rauch sowie die steigenden Flammen beobachtete. Der Anblick des winzigen Schiffes hielt ihn in einem wütenden Mahlstrom gefangen.
Schließlich wurde Hoids Musik langsamer, die heftigen Echos verblassten. Zurück blieben sanftere Klänge, die dem Plätschern von Wellen entsprachen.
»Die Wandersegel wurde in dem Sturm beinahe vernichtet, aber Derethil und die meisten seiner Matrosen überlebten. Sie fanden sich auf einem Ring kleiner Inseln wieder, die von einem gewaltigen Strudel umgeben waren, in dem sich, wie es heißt, der Ozean entleere. Derethil und seine Männer wurden von einem seltsamen Volk mit langen, biegsamen Gliedern begrüßt, die allesamt Roben in derselben Farbe und Muscheln im Haar trugen, die keiner Art glichen, welche es in Roschar gab.
Dieses Volk nahm die Überlebenden auf, nährte sie und ließ sie wieder gesund werden. Während seiner wochenlangen Erholung studierte Derethil das seltsame Volk, das sich selbst die Uvara nannte – das Volk des großen Abgrunds. Es führte ein merkwürdiges Leben. Im Gegensatz zu den Menschen in Roschar, die andauernd miteinander stritten, schienen die Uvara immer mit allem einverstanden zu sein. Von Kindheit an gab es keinerlei Fragen. Jeder Einzelne fügte sich allen seinen Pflichten.«
Hoid spielte nun wieder und ließ den Rauch ungehindert aufsteigen. Kaladin glaubte darin ein ganzes Volk zu sehen – fleißig, immer bei der Arbeit. Ein Gebäude erhob sich, mit einer Gestalt an einem der Fenster – Derethil, der die Uvara beobachtete. Die Musik war beruhigend und seltsam.
»Eines Tages«, fuhr Hoid fort, »machten Derethil und seine Männer Kampfübungen, um ihre Stärke wiederzugewinnen. Da brachte ihnen eine junge Dienerin einige Erfrischungen. Sie stolperte über eine unebene Steinplatte, woraufhin die Pokale
zu Boden fielen und zersprangen. Wie ein Blitz stürzte sich ein anderer Uvara auf das unglückliche Kind und schlachtete es auf die brutalste Weise ab. Derethil und seine Männer waren so verblüfft, dass das Kind bereits tot war, als sie sich wieder rühren konnten. Wütend verlangte Derethil den Grund für diesen ungerechtfertigten Mord zu erfahren. Einer der Eingeborenen erklärte ihm: Unser Herrscher duldet kein Versagen. «
Die Musik setzte erneut ein und wirkte nun so klagend, dass Kaladin erzitterte. Er beobachtete, wie das Mädchen mit Steinen zu Tode geschlagen wurde, und die stolze Gestalt Derethils erhob sich über ihrem niedergestürzten Körper.
Kaladin kannte diese Trauer. Es war die Trauer des Versagens; die Trauer darüber, dass man jemanden hatte sterben lassen, den man eigentlich hätte retten können. So viele Menschen, die er geliebt hatte, waren schon gestorben.
Jetzt konnte er einen Grund dafür angeben. Er hatte den Zorn der Herolde und des Allmächtigen auf sich gezogen. So musste es doch sein, oder?
Er wusste, dass er längst zu Brücke Vier zurückgehen sollte. Aber er konnte sich einfach nicht losreißen. Er hing an den Lippen des Geschichtenerzählers.
»Als Derethil genauer hinsah«, sagte Hoid, während seine Musik noch immer sanft nachhallte und ihn begleitete, »bemerkte er weitere Morde. Diese Uvara, dieses
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