Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
Bald mussten sie aussteigen und einen anderen Lift nehmen, der sie zu den nächsthöheren Stockwerken brachte. »Ich hätte nicht so viel Zeit mit Euch verbringen sollen«, sagte er schließlich. »Die alten Feuerer sind der Meinung, dass ich ohnehin schon zu sehr abgelenkt bin. Sie sehen es nie gern, wenn jemand aus ihren Reihen einen Blick auf die Welt außerhalb der Feuerei wirft.«
»Euer Recht, einer Frau den Hof zu machen, ist geschützt.«
»Wir sind Eigentum. Die Rechte eines Menschen können geschützt sein, doch gleichzeitig wird er davon abgehalten, sie auszuüben. Ich habe meine Arbeit vernachlässigt, ich habe meinen Oberen nicht gehorcht, und indem ich Euch den Hof gemacht habe, habe ich Unheil heraufbeschworen.«
»Ich habe Euch um nichts davon gebeten.«
»Aber Ihr habt mich auch nicht davon abgehalten.«
Darauf fand sie keine Antwort, verspürte jedoch eine aufkeimende Besorgnis. Eine Andeutung von Panik, ein Verlangen, davonzulaufen und sich irgendwo zu verstecken. Während ihrer sehr einsamen Jahre auf den Besitzungen ihres Vaters hatte sie niemals von einer Beziehung wie dieser geträumt. Ist es das?, dachte sie, während die Angst in ihr immer stärker wurde. Eine Beziehung? Der Grund für ihre Reise nach Kharbranth
war so klar umrissen gewesen. Wie war sie nur dazu gekommen, einem Mann möglicherweise das Herz zu brechen?
Zu ihrer Schande musste sie vor sich selbst zugeben, dass sie die Forschungen sogar noch mehr vermissen würde als Kabsal. War sie eine schreckliche Person, weil sie so fühlte? Sie mochte ihn. Er war so angenehm. Und interessant.
Er sah sie an, Verlangen lag in seinem Blick. Er schien … Sturmvater! Er schien wirklich verliebt in sie zu sein. Sollte sie sich nicht auch in ihn verlieben? Es geschah aber nicht. Sie war bloß verwirrt.
Als sie die oberste Etage erreicht hatten, zu der dieser Aufzug fuhr, rannte sie in den Schleier hinaus. Kabsal folgte ihr, aber sie würden noch einen weiteren Aufzug zu Jasnahs Loge ganz oben nehmen müssen. Bald war sie also wieder mit Kabsal eingesperrt.
»Ich könnte Euch begleiten«, sagte Kabsal leise. »Ich könnte mit Euch nach Jah Keved zurückkehren.«
Schallans Panik wuchs noch stärker an. Sie kannte ihn doch kaum. Ja, sie hatten oft miteinander geplaudert, aber nur selten über wichtige Dinge. Wenn er die Feuerei verließ, würde er in den zehnten Nahn herabgestuft werden und stünde dann fast so niedrig wie ein Dunkelauge. Er wäre ohne Geld und Haus und in einer beinahe genauso schlimmen Lage wie ihre eigene Familie.
Ihre Familie. Was würden ihre Brüder sagen, wenn sie einen Fremden mit nach Hause brachte? Noch jemanden, der an ihren Schwierigkeiten teilhatte und ihre Geheimnisse kennenlernen würde?
»Ich sehe an Eurem Gesichtsausdruck, dass das keine Möglichkeit ist«, sagte Kabsal. »Offenbar habe ich ein paar sehr wichtige Dinge falsch gedeutet.«
»Nein, das ist es nicht«, erwiderte Schallan rasch. »Es ist bloß … ach, Kabsal. Wie könnt Ihr erwarten, in meinen Handlungen
einen Sinn zu sehen, den nicht einmal ich selbst erkenne? « Sie berührte ihn am Arm und drehte ihn zu sich um. »Ich war nicht ehrlich zu Euch. Und auch nicht zu Jasnah. Und, was das Ärgerlichste ist, auch nicht zu mir selbst. Es tut mir so leid.«
Er zuckte die Schultern und versuchte offenbar, Gelassenheit vorzutäuschen. »Zumindest bekomme ich ein Bild. Oder?«
Sie nickte, als der Aufzug endlich zitternd zum Stillstand kam. Sie ging den dunklen Korridor entlang, und Kabsal folgte ihr mit den Laternen. Jasnah sah abschätzig auf, als Schallan den Alkoven betrat, aber sie fragte nicht, warum es so lange gedauert hatte. Schallan bemerkte, wie sie errötete, als sie ihre Zeichenutensilien zusammensuchte. Kabsal war zögernd in der Tür stehen geblieben. Er hatte einen Korb mit Brot und Marmelade auf dem Tisch stehen lassen. Das Tuch lag noch darüber ausgebreitet; Jasnah hatte ihn nicht angerührt, obwohl Kabsal ihr immer ein wenig von seinen Mitbringseln als Friedensangebot überließ. Allerdings keine Marmelade, denn Jasnah hasste sie.
»Wo soll ich mich hinsetzen?«, fragte Kabsal.
»Bleibt einfach dort stehen«, antwortete Schallan, während sie sich setzte, das Zeichenbrett gegen ihre Beine legte und es mit der bedeckten Schutzhand festhielt. Sie betrachtete ihn, wie er sich mit der Hand am Türrahmen festhielt: Da war der kahl geschorene Kopf, die hellgraue Robe, die sich um ihn schmiegte, die kurzen Ärmel, die weiße
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