Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
zeichnete weiter, zog sich dabei immer tiefer in ihre Gedanken zurück und überließ die Arbeit ihren Fingern. Wenn sie den Seelengießer allein nach Hause schickte, konnte sie in Kharbranth bleiben. Das war eine strahlende und verführerische Aussicht, die ihre Gefühle allerdings noch weiter durcheinanderbrachte. Sie war doch schon seit langer Zeit auf die Abreise vorbereitet. Was sollte sie mit Kabsal machen? Und was mit Jasnah? Konnte sie – Schallan – wirklich hierbleiben und trotz ihrer Tat weiterhin Jasnahs kostenlose Unterweisung genießen?
Ja, dachte Schallan. Ja, das könnte ich.
Die Heftigkeit, mit der dieser Gedanke auftrat, überraschte sie. Sie würde jeden Tag aufs Neue mit dieser Schuld leben, wenn das bedeutete, dass sie auch weiterlernen durfte. Das war furchtbar selbstsüchtig von ihr, und sie schämte sich auch deswegen. Aber wenigstens könnte sie dann noch ein wenig so weitermachen wie bisher. Irgendwann musste sie natürlich gehen. Sie konnte ihre Brüder nicht für immer mit der Gefahr allein lassen. Sie brauchten doch Schallan.
Es war Selbstsucht, gefolgt von Mut. Sie war fast so erstaunt, das Letztere in sich zu finden, wie sie es beim Ersteren gewesen war. Beides betrachtete sie nicht als ihre Grundeigenschaften. Aber allmählich begriff sie doch, dass sie bislang nicht gewusst hatte, wer sie wirklich war. Das wurde ihr erst allmählich klar, nachdem sie Jah Keved und alles verlassen hatte, was sie gekannt hatte und was von ihr erwartet worden war.
Ihr Zeichnen wurde immer hastiger. Sie war mit den Personen fertig und machte sich nun an den Hintergrund. Rasche,
kühne Striche wurden zum Boden und der Tür. Ein dunkler Fleck war die Seite des Schreibtisches, der einen Schatten warf. Scharfe, dünne Linien bildeten die Laterne, die auf dem Boden stand. Geschwungene, flatternde Linien stellten die Beine und die Robe der Kreatur dar, die hinter …
Schallan erstarrte. Ihre Finger zeichneten einen nicht beabsichtigten Kohlestrich, der sich von der Gestalt löste, die sie unmittelbar hinter Kabsal gezeichnet hatte. Diese Gestalt war aber … nicht wirklich da. Statt eines Kopfes schwebte über ihrem Kragen ein scharf umrissenes, kantiges Symbol.
Schallan sprang auf, warf dabei ihren Stuhl um und packte Zeichenbrett und Stift mit den Fingern ihrer Freihand.
»Schallan?«, fragte Kabsal, der sich ebenfalls erhob.
Sie hatte es wieder getan. Warum? Der Friede, den sie während des Zeichnens immer stärker in sich gespürt hatte, war innerhalb eines einzigen Augenblicks verschwunden. Und ihr Herz raste. Der Druck kehrte zurück. Kabsal. Jasnah. Ihre Brüder. Die Entscheidungen, Wahlmöglichkeiten, Schwierigkeiten.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Kabsal und machte einen Schritt auf sie zu.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich … ich habe einen Fehler gemacht. «
Er runzelte die Stirn. Jasnah sah auf, und auch ihre Stirn war gefurcht.
»Es ist schon in Ordnung«, sagte Kabsal. »Kommt, wir essen etwas Brot und Marmelade. Wir beruhigen uns, und dann könnt Ihr das Bild vollenden. Es ist mir egal, ob …«
»Ich muss gehen«, unterbrach ihn Schallan. Ihr war, als müsse sie ersticken. »Es tut mir wirklich leid.«
Sie hastete an dem verblüfften Feuerer vorbei, eilte aus der Loge und machte einen weiten Bogen um die Stelle, an der die Gestalt in ihrer Zeichnung stand. Was war bloß los mit ihr?
Sie lief zum Aufzug und rief nach den Parschern, damit sie nach unten gefahren wurde. Dabei warf sie einen raschen Blick über die Schulter. Kabsal stand im Gang und sah ihr nach. Schallan hatte den Aufzug erreicht, hielt noch immer den Skizzenblock in der Hand, während ihr Puls raste. Beruhige dich, sagte sie zu sich selbst und lehnte sich gegen das hölzerne Geländer der Plattform, als die Parscher sie langsam hinunterließen. Sie schaute hinauf – zu dem leeren Podest über sich.
Und blinzelte. Und prägte sich die Szene ein. Sie zeichnete wieder.
Sie zeichnete mit knappen und präzisen Bewegungen und hielt das Brett dabei gegen ihren Schutzarm gedrückt. Als Lichtquelle hatte sie nur zwei sehr kleine Kugeln zu jeder Seite, dort wo die gespannten Seile zitterten. Sie zeichnete, ohne nachzudenken, und blickte zwischendurch immer wieder nach oben.
Dann betrachtete sie das Bild. Zwei Gestalten standen auf dem Podest über ihr. Sie trugen allzu glatte Roben, als wäre der Stoff aus Metall gewebt. Sie beugten sich hinunter und beobachteten Schallans Abstieg.
Sie sah wieder nach oben.
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