Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
umfing. Unter einer schwarzen Weste trug er ein feines, weiches Hemd, sein Haar war frisch geschnitten, und er trug einen kurzen Bart. Dem Brauch nach hätte er sich in einen weiten Mantel mit Pelzkragen hüllen müssen, doch dies war kein offizieller Anlass für den Grafen von Uster. Die Sonne schien durch das Fenster seines Arbeitsraums. Soeben hatte er seinem Jüngsten ein wertvolles Geburtstagsgeschenk überreicht: Das Liaber Moralis , auf dem die gesamte Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs beruhte.
»Als ich so alt war wie du, habe ich es von meinem Vater bekommen. In diesem Buch zeigt sich das ganze Herz der Menschen – alles, was man tun, sagen und glauben sollte«, erklärte Oratio.
Es war Laertes achter Geburtstag, und er hatte gerade angefangen, beim Waffenmeister von Guet d’Aëd zu lernen, wie man mit einem Schwert umgeht. Sein Vater, ein hochgebildeter Mann und geschickter Schwertkämpfer, hielt ein gewisses Gleichgewicht in der Ausbildung für wichtig: Nie sollte die Waffe die Oberhand über die Worte gewinnen, doch die Schriften sollten auch nicht die Kriegskunst beeinträchtigen. Für ihn gehörten beide Bereiche eng zusammen. Auf solche Weise wurden Eliten nach Art der Usters geschaffen, die sich je nach Situation sowohl mit Worten als auch mit Waffen verteidigen konnten.
»Du erinnerst dich sicher. Deine Mutter und ich haben dir davon erzählt.«
»Ja«, sagte Laerte schüchtern.
Er betrachtete das Buch in seinen kleinen Händen und wagte nicht, es aufzublättern, weil er fürchtete, es fallen zu lassen. Sanft legte der Graf eine Hand auf die Schulter seines Sohns und führte ihn zum Schreibtisch, wo das Kind das schwere Buch ablegen konnte. Jetzt schlug es den Buchdeckel auf und begann, Seite für Seite umzublättern und die vielen Zeilen handgeschriebener und mit bunter Buchmalerei verzierter Buchstaben zu bestaunen.
»Das ist die Schrift der Fangol-Mönche«, erzählte der Vater, der sich mit seinem Sohn über das Buch beugte.
Zärtlich streifte er dem Kleinen mit dem Kinn über das Haar.
»Warum haben nur sie das Recht zu schreiben?«, fragte Laerte, ohne den Blick von den Seiten zu wenden.
Jeder Absatz begann mit der farbigen Darstellung einer geheimnisvollen Szene. Die Seitenansicht eines Mannes, der vor einer Dame kniete, ein Bauer, der ein Lamm in seinen Armen trug, ein Ritter, der sich zwischen eine verängstigte Familie und streitlustige Nâagas stellte …
»Weißt du, auch du hast das Recht zu schreiben«, stellte Oratio richtig. »Auch ich schreibe Briefe oder Befehle, und als ich um deine Mutter warb, habe ich ihr ebenfalls geschrieben. Bücher jedoch, in denen das Wissen überlebt, werden von den Fangol-Mönchen abgeschrieben und kopiert.«
»Aber ich sehe dich doch auch manchmal Bücher schreiben.«
»Das ist …« Plötzlich wirkte Oratio seltsam verlegen, verbiss sich aber ein Lächeln.
»… etwas anderes. Die meisten Bücher aber sind – zumindest heute noch – Werke der Mönche. Sie halten sie für göttlich, verstehst du?«
»Haben die Götter die Bücher erfunden?«
»Ja«, nickte Oratio mit einem leisen Lachen. »Unter anderem. Unter vielem anderen.«
Enttäuscht verzog Laerte das Gesicht. Die Sätze, die er las, kamen ihm sinnlos vor. Die Worte waren so kompliziert und die Wendungen so schwierig, dass er die Zusammenhänge nicht begriff.
»Alles verstehe ich nicht …«
Nur hier und da stieß er auf bekannte Ausdrücke und Dogmen, die man in der Kirche von Guet d’Aëd bei den Predigten eingebläut bekam.
»Das ist völlig normal«, beruhigte ihn sein Vater. »Je öfter du liest und je größer du wirst, desto besser wirst du es verstehen. Es ist die Moral unserer Welt. Was gut ist, und was schlecht … Die ersten Mönche haben es aufgeschrieben und sich dabei auf die Aussagen des Liaber Dest gestützt.«
Das verloren gegangene Buch des Schicksals war eine Legende, über die vor allem im Haus Uster immer wieder gesprochen wurde. Oft hatte der Vater mit viel Nachdruck darüber berichtet und sich manchmal aufgeregt, wenn der ältere Sohn Zweifel an der Existenz des Buches zu äußern wagte. Noch nie hatte jemand das Liaber Dest zu Gesicht bekommen. Skeptiker hielten es für absolut unmöglich, dass ein Buch, dessen Herkunft ungewiss war und von dem niemand wusste, wer es geschrieben hatte, das Schicksal eines jeden Menschen vom Anfang der Welt bis zu ihrem Untergang darstellen konnte.
»Über dieses Buch werde ich dir eines Tages mehr erzählen.
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