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Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)

Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)

Titel: Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoine Rouaud
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Eines Tages wirst du alles erfahren, mein Sohn.«
    Oratio von Uster war ein aufgeklärter Mann und immer bereit, etablierte Wahrheiten zu hinterfragen. Beim Liaber Dest jedoch handelte es sich nicht um eine Wahrheit, sondern um einen Mythos, und Oratio gestattete niemandem, an seiner Existenz zu zweifeln. In solchen Augenblicken konnte er so wütend werden, dass sich Laerte vor ihm fürchtete. Doch das kam selten vor. Meist zeigte sich sein Vater liebevoll und wohlwollend.
    »Jeder Mensch …«, flüsterte Oratio über Laertes Schulter gebeugt.
    Auf der aufgeschlagenen Seite standen dieselben Worte.
    »… lebt in dieser Welt, um sein Werk zu vollenden«, vollendete Laerte den Satz.
    Der Vater richtete sich auf und fuhr seinem Sohn mit der Hand durch das Haar. »Mögest auch du dein Werk vollenden, Laerte. Ein großes …«
    … ein großes …
    »… einflussreiches …«
    … einflussreiches …
    »… und wunderbares Werk.«
    … und wunderbares …
    Ein heftiger, lebendiger Schmerz weckte Laerte. Er brannte wie die Mittagssonne, die durch die großen Fenster in den Raum fiel.
    … einflussreiches …
    Nein, er befand sich nicht mehr in Guet d’Aëd, sondern saß in einem großen Sessel. Ein Bein lag ausgestreckt auf einem Hocker.
    … und wunderbares Werk.
    Auf seinem Schoß lag ein Exemplar des Liaber Moralis und war genau auf der Seite mit diesen Worten aufgeschlagen – dort, wo das Zitat stand, das sein Vater ihm viele Jahre zuvor vorgelesen hatte.
    Laertes Verletzungen heilten nur langsam. Jeder Tag schien ihm schrecklicher als der vorhergehende. Sein Körper war zerfetzt und gebrochen, und er ertrug kaum die geringste Bewegung. Manchmal ging es ihm so schlecht, dass er in Ohnmacht fiel. Hin und wieder hatte er sich bereits tot gewähnt, und es konnte geschehen, dass er es sich sogar wünschte. War das endgültige Nichts nicht besser als diese Qual, die ihn immer wieder an seinen geschundenen Körper erinnerte?
    Vier Monate nach dem Sturz des Kaiserreichs konnte er kaum zwei Stunden aufrecht sitzen, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Dieses Mal jedoch war er nur eingeschlafen und schwebte in Erinnerungsträumen, nachdem er in der Bibliothek der Villa eine Ausgabe des Liaber Moralis entdeckt hatte.
    Eine sanfte Hand entfernte das Buch von seinen Knien. Zum ersten Mal seit seiner schweren Verletzung nahm Laerte in seinem großen, lichtdurchfluteten Zimmer mit den weißen Vorhängen seinen Gastgeber wahr. In den vergangenen vier Monaten war er nur von den Bediensteten der Villa De Pages betreut worden. Das Haus lag in den südlichen Territorien, nur wenige Tagesritte von der großen Stadt Masalia entfernt, hoch über einem Weinberg mit Blick auf das azurblaue Meer.
    Gregory De Page trug ein schwarzes Wams, ein edles Langschwert in einem schwarzen Ledergürtel und kniehohe, glänzende Stiefel und machte nicht im Geringsten den Eindruck eines Edelmanns auf der Flucht. Gemächlich ging er umher, blätterte im Liaber Moralis und wirkte sehr elegant. Er war einer der Sieger des Kriegs. Er hatte im Untergrund agiert und es den Aufständischen ermöglicht, Kanonen zu beschaffen, mit denen sie die Kaiserstadt Emeris in Schutt und Asche legten. Was jedoch war nach dem Wechsel aus ihm geworden? Laerte hatte sich nicht dafür interessiert, sondern es vorgezogen, sich in Schweigen zu hüllen und seinen Gedanken nachzuhängen. Nach wie vor verlor er sich in einem Zorn, der ihn innerlich auffraß. Er war … ja, er war gescheitert.
    »Das Buch der Moral – Gesetze, die das Zusammenleben erleichtern«, flüsterte De Page nachdenklich vor sich hin. »Hervorgegangen aus dem für immer verlorenen Liaber Dest , geschrieben von den ersten Fangol-Mönchen. Aber es sind ungerechte Gesetze. Zumindest hinsichtlich des Stellenwertes, die sie den sogenannten ›Wilden‹ einräumen.«
    Er klappte das Buch zu, warf es auf einen Sessel in der Ecke und lehnte sich wortlos an den Kamin. Ein lauer Mittagswind wehte über die Terrasse und bauschte die weißen Vorhänge an den bodentiefen Fenstern.
    »Vielleicht gelten sie ja inzwischen als veraltet«, hing er weiter seinen Gedanken nach und rieb sich das Kinn mit einer schwarz behandschuhten Hand. »In den Liabers stehen eine Menge Grundsätze, über deren Herkunft sich niemals jemand Gedanken gemacht hat. Erstaunlich, oder? Irgendwer hat die Wünsche der Götter zu Papier gebracht, aber niemand weiß, wer es war. Und niemand hat diese Wünsche je infrage gestellt. Nicht etwa aus Angst vor

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