Der Pfad im Schnee
Hunde bellten in der Stadt, Hähne kündigten den kommenden Tag an. Ich musste gehen, doch ich zögerte, den Mann zu verlassen.
»Fürchtest du dich nicht?«, fragte ich ihn.
»Oft habe ich große Angst. Ich habe nicht die Gabe des Muts. Aber mein Leben liegt in Gottes Hand. Er hat irgendeinen Plan mit mir. Er hat Sie zu uns geschickt.«
»Ich bin kein Engel«, sagte ich.
»Warum sollte einer der Otori unsere Gebete kennen?«, entgegnete er. »Wer außer einem Engel würde seine Mahlzeit mit jemandem wie mir teilen?«
Ich wusste, welches Risiko ich einging, aber ich sagte es ihm trotzdem. »Lord Shigeru hat mich in Mino vor Iida gerettet.«
Ich musste es nicht weiter erklären. Er schwieg einen Augenblick, als wäre er beeindruckt. Dann flüsterte er: »Mino? Wir dachten, niemand habe dort überlebt. Wie seltsam sind Gottes Wege. Sie wurden für irgendeine große Aufgabe verschont. Wenn Sie kein Engel sind, dann sind Sie vom Geheimen gekennzeichnet.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin das geringste aller Geschöpfe. Mein Leben gehört nicht mir. Das Schicksal, das mich von meinen eigenen Leuten trennte, hat mich jetzt von den Otori weggeführt.« Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich einer vom Stamm geworden war.
»Brauchen Sie Hilfe? Wir werden Ihnen immer helfen. Kommen Sie zu uns an die Brücke der Ausgestoßenen.«
»Wo ist das?«
»Wo wir die Häute gerben, zwischen Yamagata und Tsuwano. Fragen Sie nach Jo-An.« Dann sagte er das dritte Gebet, mit dem er für das Essen dankte.
»Ich muss gehen«, sagte ich.
»Geben Sie mir zuerst einen Segen.«
Ich legte ihm die rechte Hand auf den Kopf und begann das Gebet, das meine Mutter einst für mich gesagt hatte. Mir war unbehaglich, ich wusste, dass ich kaum das Recht hatte, diese Worte zu sprechen, aber sie kamen mir leicht über die Lippen. Jo-An nahm meine Hand und berührte sie mit Stirn und Lippen. Da wurde mir klar, wie tief er mir vertraute. Er ließ meine Hand los und neigte den Kopf zur Erde. Als er ihn wieder hob, war ich auf der anderen Straßenseite. Der Himmel wurde bleich, die Morgenluft kühl.
Ich schlich von Eingang zu Eingang zurück. Die Tempelglocke läutete. Die Stadt regte sich, die ersten Läden wurden heruntergenommen, der Rauchgeruch von den Küchenfeuern waberte durch die Straßen. Ich war viel zu lange bei Jo-An geblieben. Die ganze Nacht hatte ich mein zweites Ich nicht benutzt, doch ich fühlte mich gespalten, als hätte ich mein wahres Ich für immer unter der Weide bei ihm gelassen. Das Ich, das zum Stamm zurückkehrte, war hohl.
Als ich zum Haus der Muto kam, drang der bohrende Gedanke, der die ganze Nacht in meinem Hinterkopf gewesen war, an die Oberfläche. Wie sollte ich von der Straße aus den Überhang der Mauer bewältigen? Der weiße Mörtel, die grauen Ziegel glänzten mir spöttisch im Morgenlicht entgegen. Ich duckte mich in den Schutz des Hauses gegenüber, wobei ich meine Unbesonnenheit und Torheit tief bedauerte. Ich hatte meinen Fokus und die Konzentration verloren: Mein Gehör war so scharf wie immer, doch die innere Sicherheit, der Instinkt, fehlte mir.
Ich konnte nicht bleiben, wo ich war. In der Ferne hörte ich das Stapfen von Schritten, das Getrappel von Hufen. Eine Gruppe Männer näherte sich. Ihre Stimmen drangen mir entgegen. Ich glaubte den westlichen Tonfall zu erkennen, der sie als Arais Soldaten kennzeichnete. Ich wusste, dass mein Leben mit dem Stamm zu Ende sein würde, wenn sie mich fanden - mein Leben würde vielleicht überhaupt zu Ende sein, wenn Arai sich so beleidigt fühlte, wie gesagt wurde.
Ich hatte keine Wahl als zum Tor zu laufen und den Wachen zuzurufen, sie sollten es öffnen, aber gerade als ich die Straße überqueren wollte, hörte ich Stimmen jenseits der Mauer. Akio rief den Wachen leise etwas zu. Ich hörte ein Knarren und einen dumpfen Schlag, als das Tor entriegelt wurde.
Die Patrouille bog unten in die Straße ein. Ich machte mich unsichtbar, lief zum Tor und schlüpfte hinein.
Die Wachen sahen mich nicht, doch Akio nahm mich wahr, wie er mich auch in Inuyama wahrgenommen hatte, als ich dem Stamm zum ersten Mal in die Hände fiel. Er trat mir in den Weg und packte mich an beiden Armen.
Ich wappnete mich gegen die Schläge, die bestimmt folgen würden, doch er verschwendete keine Zeit. Rasch drängte er mich zum Haus.
Die Pferde der Patrouille gingen jetzt schneller, im Trab kamen sie durch die Straße. Ich stolperte über den Hund. Er winselte im Schlaf. Die Reiter
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