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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Geruch der Gerberei. Dieser Mann musste ein Lederarbeiter sein und deshalb ein Ausgestoßener. Jetzt wusste ich, wer er war: der Mann, der mit mir gesprochen hatte, nachdem ich ins Schloss geklettert war. Sein Bruder war einer der gefolterten Verborgenen gewesen, denen ich die Erlösung gebracht hatte. Ich hatte mein zweites Ich am Flussufer eingesetzt und dieser Mann hatte geglaubt, einen Engel zu sehen. Er hatte das Gerücht vom Engel von Yamagata verbreitet. Es war leicht zu erraten, warum er hier betete. Er musste ebenfalls ein Verborgener sein und hoffte vielleicht, den Engel wiederzusehen. Ich erinnerte mich, wie ich zuerst geglaubt hatte, ich müsse ihn töten, es aber nicht tun konnte. Jetzt betrachtete ich ihn mit der besorgten Zuneigung, die man jemandem entgegenbringt, dessen Leben man verschont hat.
    Ich empfand noch etwas, einen jähen Schmerz über den Verlust der Gewissheiten meiner Kindheit, der Worte und Rituale, die mich damals getröstet hatten und mir so ewig erschienen waren wie der Wechsel der Jahreszeiten und der Weg von Mond und Sternen am Himmel. Ich war aus meinem Leben bei den Verborgenen herausgeholt worden, als Shigeru mich in Mino gerettet hatte. Seit damals hatte ich verheimlicht, woher ich kam, nie mit jemandem darüber geredet, nie öffentlich gebetet. Aber manchmal bei Nacht betete ich immer noch entsprechend dem Glauben, in dem ich erzogen worden war, zu dem geheimen Gott, den meine Mutter verehrte, und jetzt sehnte ich mich danach, zu diesem Mann zu gehen und mit ihm zu sprechen.
    Als Otorilord, sogar als Angehöriger des Stamms, hätte ich einem Lederarbeiter aus dem Weg gehen müssen, denn sie schlachten Tiere und gelten als Ausgestoßene; doch die Verborgenen glauben, dass alle Menschen vom geheimen Gott gleich erschaffen sind, so hatte es mich meine Mutter gelehrt. Trotzdem brachte mich ein Rest Vorsicht dazu, außer Sicht unter der Weide zu bleiben, aber als ich sein geflüstertes Gebet hörte, formte mein Mund die Worte mit ihm.
    Ich hätte es damit gut sein lassen - ich war kein vollkommener Narr, obwohl ich mich in jener Nacht so verhielt -, wenn ich nicht gehört hätte, wie Männer über die nächstgelegene Brücke kamen. Es war irgendeine Patrouille, wahrscheinlich Arais Leute, obwohl ich das nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Offensichtlich hatten sie auf der Brücke angehalten und schauten nun hinunter zum Fluss.
    »Dort ist wieder dieser Irre«, sagte einer. »Es macht mich krank, ihn Nacht um Nacht dort sehen zu müssen.« Er hatte den Tonfall der Leute hier, hörte sich aber an, als käme er aus dem Westen.
    »Gib ihm eine Tracht Prügel, dann wird er bald nicht mehr kommen.«
    »Das haben wir schon getan. Es hat nichts geändert.«
    »Kommt er wieder, weil er mehr will?«
    »Wir sollten ihn ein paar Nächte lang einsperren.«
    »Oder einfach in den Fluss werfen.«
    Sie lachten. Ich hörte, wie ihre Schritte beim Laufen lauter wurden und dann ein wenig leiser, weil sie hinter einer Häuserzeile waren. Sie befanden sich immer noch ein gutes Stück weit entfernt; der Mann am Ufer hörte nichts. Ich hatte nicht vor, dabeizustehen und zuzuschauen, wie die Wachen meinen Mann in den Fluss warfen. Meinen Mann: Er gehörte bereits mir.
    Ich schlüpfte unter den Weidenzweigen hervor, lief zu ihm und tippte ihm auf die Schulter. Als er sich umdrehte, zischte ich ihm zu: »Komm, versteck dich schnell!«
    Er erkannte mich sofort, schnappte vor Überraschung hörbar nach Luft, warf sich mir zu Füßen und betete zusammenhanglos. Aus der Ferne näherte sich die Patrouille über die Straße, die am Fluss entlangführte. Ich schüttelte den Mann, hob seinen Kopf, legte mir den Finger an die Lippen und zog ihn in den Schutz der Weiden, wobei ich darauf achtete, ihm nicht in die Augen zu schauen.
    Ich sollte ihn hier zurücklassen. Ich kann mich unsichtbar machen und der Patrouille entkommen, dachte ich, doch dann hörte ich sie um die Ecke stapfen. Es war zu spät.
    Die Brise kräuselte das Wasser und ließ die Weidenblätter zittern. In der Ferne krähte ein Hahn, eine Tempelglocke läutete.
    »Er ist weg!«, rief jemand keine zehn Schritte von uns entfernt.
    Ein anderer fluchte: »Verdammte Ausgestoßene!«
    »Was ist deiner Meinung nach schlimmer, Ausgestoßene oder Verborgene?«
    »Manche sind beides! Das sind die Schlimmsten!«
    Ich hörte den schneidenden Seufzer eines Schwerts, das gezogen wurde. Ein Soldat hieb auf ein Schilfgrasbüschel ein und dann auf die Weide. Der

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