Der Pfad im Schnee
nach Matsue gehen und nichts tun, was sie oder dich gefährdet?«
»Ja.«
Sie überlegte einen Augenblick und wies dann Akio an, mich trotzdem zu fesseln. Nachdem er das getan hatte, verließen sie mich, um unsere Abreise vorzubereiten. Die Dienerin brachte ein Tablett mit einem Imbiss und Tee, wortlos half sie mir beim Essen und Trinken. Nachdem sie mit den Schalen gegangen war, kam niemand mehr in meine Nähe. Ich horchte auf das Geräusch des Hauses und glaubte die Härte und Grausamkeit zu erkennen, die unter dem Alltagslied lag. Eine enorme Erschöpfung überkam mich. Ich kroch zur Matratze, machte es mir so bequem wie möglich, dachte verzweifelt an Jo-An und meine eigene Dummheit und schlief ein.
Plötzlich erwachte ich mit hämmerndem Herzen und trockener Kehle. Ich hatte von dem Ausgestoßenen geträumt, einen schrecklichen Traum, in dem aus weiter Ferne eine eindringliche Stimme, so dünn wie die einer Stechmücke, etwas flüsterte, das nur ich hören konnte.
Akio musste sein Gesicht an die Außenmauer gepresst haben. Er beschrieb jede Einzelheit von Jo-Ans Folter durch Arais Männer. Langsam und monoton ging die Schilderung immer weiter und weiter, mir wurde schlecht und schwindlig davon. Hin und wieder schwieg ich lange; dann dachte ich erleichtert, es sei vorüber, und schon fing seine Stimme wieder an.
Ich konnte mir noch nicht einmal die Finger in die Ohren stecken. Davor konnte ich nicht fliehen. Kenjis Frau hatte Recht: Es war die schlimmste Strafe, die sie sich für mich hatte ausdenken können. Ich wünschte vor allem, ich hätte den Ausgestoßenen getötet, als ich ihn zum ersten Mal am Flussufer sah. Mitleid hatte mich damals zurückgehalten, aber dieses Mitleid hatte entsetzliche Folgen gehabt. Ich hätte Jo-An einen schnellen und gnädigen Tod gegeben. Jetzt erlitt er meinetwegen die Folter.
Als Aldos Stimme endlich verklungen war, hörte ich draußen Yukis Schritte. Sie kam herein und brachte eine Schüssel, eine Schere und ein Rasiermesser mit. Die Dienerin Sadako folgte ihr mit einem Arm voll Kleidungsstücken, legte sie auf den Boden und ging schweigend wieder hinaus. Ich hörte, wie Sadako Akio sagte, das Mittagessen sei fertig, hörte ihn aufstehen und hinter ihr in die Küche gehen. Der Geruch von Essen drang durchs Haus, aber ich hatte keinen Appetit.
»Ich muss dir die Haare schneiden«, sagte Yuki. Ich trug sie noch wie ein Krieger, zwar gemäßigt, worauf Ichiro, mein früherer Lehrer in Shigerus Haushalt, bestanden hatte, aber unverkennbar, mit rasiertem Vorderkopf und dem Hinterhaar in einem Knoten. Die Haare waren seit Wochen nicht geschnitten worden, ich hatte mich auch im Gesicht nicht rasiert, allerdings war mein Bartwuchs noch immer sehr spärlich.
Yuki band mir die Hände und Beine los und forderte mich auf, mich vor sie zu setzen. »Du bist ein Idiot«, sagte sie, als sie zu schneiden begann.
Ich antwortete nicht. Ich sah es genauso, doch ich wusste auch, dass ich wahrscheinlich das Gleiche wieder tun würde.
»Meine Mutter war so wütend! Ich weiß nicht, was sie mehr überrascht hat - dass du sie einschläfern konntest oder dass du es gewagt hast.«
Haarschnipsel fielen um mich herum. »Zugleich war sie irgendwie erregt«, fuhr Yuki fort. »Sie sagt, du erinnerst sie an Shintaro, als er in deinem Alter war.«
»Hat sie ihn gekannt?«
»Ich verrate dir ein Geheimnis: Sie war verrückt nach ihm. Sie hätte ihn geheiratet, aber das passte dem Stamm nicht, deshalb heiratete sie stattdessen meinen Vater. Jedenfalls glaube ich, sie hätte es nicht ertragen, dass jemand diese Macht über sie hat. Shintaro war ein Meister des Kikutaschlafs. Niemand war vor ihm sicher.«
Yuki war angeregt und schwatzhafter, als ich sie je erlebt hatte. Ich spürte, wie ihre Hand an meinem Nacken leicht zitterte, während die Schere kalt auf meinem Kopf herumschnippelte. Mir fielen Kenjis geringschätzige Worte über seine Frau ein und die Mädchen, mit denen er geschlafen hatte. Ihre Ehe war wie die der meisten, ein arrangiertes Bündnis zwischen zwei Familien.
»Wenn sie Shintaro geheiratet hätte, wäre ich eine andere«, sagte Yuki nachdenklich. »Ich glaube, im Herzen hat sie nie aufgehört ihn zu lieben.«
»Obwohl er ein Mörder war?«
»Er war kein Mörder! Nicht mehr als du.«
Etwas in ihrer Stimme sagte mir, dass das Gespräch in ein gefährliches Fahrwasser geriet. Ich fand Yuki sehr anziehend. Ich wusste, dass sie viel für mich übrig hatte. Aber ich empfand für sie
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