Der Pfad im Schnee
Mann neben mir verkrampfte sich. Er zitterte, gab aber keinen Laut von sich. Der Geruch nach gegerbtem Leder brannte mir so in der Nase, dass ich überzeugt war, auch die Wachen würden ihn bemerken, doch vermutlich überdeckte ihn der Gestank des Flusses.
Ich überlegte, sie von dem Ausgestoßenen abzulenken, mich zu spalten und ihnen irgendwie aus dem Weg zu gehen, da flog plötzlich ein Entenpaar, das im Schilf geschlafen hatte, mit lautem Quaken hoch, streifte die Oberfläche des Wassers und störte die nächtliche Stille. Die Männer schrien überrascht auf, dann verspotteten sie einander wegen ihres Schrecks. Eine Weile witzelten und fluchten sie und warfen Steine nach den Enten, dann gingen sie in die entgegengesetzte Richtung davon. Ihre Schritte hallten durch die Stadt, wurden leiser und verklangen schließlich. Jetzt fing ich an, den Mann auszuschimpfen.
»Was machst du hier draußen mitten in der Nacht? Sie hätten dich in den Fluss geworfen, wenn sie dich gefunden hätten.«
Wieder beugte er den Kopf bis zu meinen Füßen.
»Setz dich auf«, drängte ich. »Sprich mit mir.«
Er setzte sich, schaute mir kurz ins Gesicht und senkte dann den Blick. »Ich komme jede Nacht, wenn ich kann«, murmelte er. »Ich habe zu Gott gebetet, Sie noch einmal zu sehen. Nie kann ich vergessen, was Sie für meinen Bruder, für die anderen getan haben.« Er schwieg einen Augenblick, dann flüsterte er: »Ich dachte, Sie sind ein Engel. Aber die Leute sagen, Sie seien Lord Otoris Sohn. Um seinen Tod zu rächen, haben Sie Lord Iida getötet. Jetzt haben wir einen neuen Lord, Arai Daiichi aus Kumamoto. Seine Männer haben die Stadt nach Ihnen durchkämmt. Ich dachte, sie müssen wissen, dass Sie hier sind. Deshalb bin ich heute Nacht wieder gekommen, um Sie zu sehen. In welcher Gestalt Sie auch erscheinen, Sie müssen ein Engel Gottes sein, um zu tun, was Sie getan haben.«
Es war ein Schock zu hören, wie dieser Mann meine Geschichte erzählte. Jetzt wurde mir richtig bewusst, in welcher Gefahr ich war. »Geh nach Hause. Sag niemandem, dass du mich gesehen hast.« Ich wollte gehen.
Er schien mich nicht zu hören. Er war in einer fast überschwänglichen Stimmung: Seine Augen glitzerten, Speichelflecken schimmerten auf seinen Lippen. »Bleiben Sie, Lord«, drängte er. »Jede Nacht bringe ich Ihnen Essen, Essen und Wein. Wir müssen das hier miteinander teilen, dann müssen Sie mich segnen und ich werde glücklich sterben.«
Er hob ein kleines Bündel auf. Während er das Essen auswickelte und auf den Boden zwischen uns legte, sprach er das erste Gebet der Verborgenen. Die vertrauten Worte jagten mir einen Schauder über den Rücken, und als der Mann fertig war, antwortete ich leise mit dem zweiten Gebet. Gemeinsam machten wir das Zeichen über das Mahl und über uns, dann begann ich zu essen.
Es war erbärmlich dürftig, ein Hirsekuchen mit ein wenig geräucherter Fischhaut darin, aber es hatte alle Elemente der Rituale meiner Kindheit. Der Ausgestoßene zog eine kleine Flasche hervor und goss etwas daraus in eine Holzschale. Es war selbst gebrannter Schnaps, viel schärfer als Wein, und jeder von uns bekam nicht mehr als einen Mund voll, doch der Geruch erinnerte mich an mein Zuhause. Ich fühlte stark die Gegenwart meiner Mutter und meine Lider brannten.
»Bist du ein Priester?«, flüsterte ich und fragte mich, wie er der Verfolgung durch die Tohan entkommen war.
»Mein Bruder war unser Priester. Der, den Sie in Gnaden erlöst haben. Seit seinem Tod tue ich für unsere Leute, was ich kann - für jene, die es noch gibt.«
»Sind viele unter Iida gestorben?«
»Im Osten waren es Hunderte. Meine Eltern sind vor vielen Jahren hierher geflohen, und unter den Otori gab es keine Verfolgung. Doch in den zehn Jahren seit der Schlacht von Yaegahara war hier keiner mehr sicher. Jetzt haben wir einen neuen Herrscher, Arai: Keiner weiß, in welche Richtung er sich wendet. Es heißt, er habe Wichtigeres zu tun. Vielleicht lässt er uns in Ruhe und rechnet mit dem Stamm ab.« Bei den letzten Worten senkte er die Stimme zu einem Flüstern, als würde schon die Äußerung Strafe nach sich ziehen. »Und das wäre nur gerecht«, fuhr er fort, »denn die vom Stamm sind die Mörder und Attentäter. Unsere Leute sind harmlos. Das Töten ist uns verboten.« Er schaute mich entschuldigend an. »Ihr Fall, Lord, war natürlich anders.«
Er hatte keine Ahnung, wie anders oder wie weit ich mich von den Lehren meiner Mutter entfernt hatte.
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