Der Pfad im Schnee
Grab? Ich wollte für ihn beten nach der Art meiner Leute. Oder für ihn Kerzen anzünden und Weihrauch verbrennen, wie Ichiro und Chiyo es mir in Shigerus Haus in Hagi beigebracht hatten. Ich dachte an Jo-An, wie er allein in die Dunkelheit ging. Was würden seine Leute ohne ihn tun?
»Betest du zu irgendjemandem?«, fragte ich Yuki.
»Natürlich«, sagte sie überrascht.
»Zu wem?«
»Zu dem Erleuchteten in allen seinen Gestalten. Zu den Göttern des Berges, des Waldes, des Flusses: zu all den alten Gottheiten. Heute Morgen habe ich Reis und Blumen zum Schrein an der Brücke gebracht und um einen Segen für unsere Reise gebetet. Ich bin froh, dass wir doch noch heute aufbrechen. Es ist ein guter Tag zum Reisen, alle Zeichen sind günstig.« Sie schaute mich an, als würde sie alles bedenken, dann schüttelte sie den Kopf. »Frag mich nicht solche Sachen. Dadurch klingst du so fremd. Kein anderer würde das fragen.«
»Kein anderer hat mein Leben gelebt.«
»Du bist jetzt einer vom Stamm. Versuch dich entsprechend zu benehmen.«
Sie zog einen kleinen Beutel aus dem Ärmel und reichte ihn mir. »Hier. Akio hat gesagt, ich soll dir das geben.«
Ich öffnete den Beutel und griff hinein, dann leerte ich den Inhalt aus. Fünf Jonglierbälle, glatt, fest und mit Reiskörnern gefüllt, fielen zu Boden. Sosehr ich das Jonglieren auch hasste, es war mir doch unmöglich, sie nicht aufzuheben und damit zu spielen. Mit drei Bällen in der Rechten und zwei in der Linken stand ich auf. Das Gefühl der Bälle, die Kleidungsstücke des Schauspielers hatten mich bereits in jemand anderen verwandelt.
»Du bist Minoru«, sagte Yuki. »Die Bälle hast du von deinem Vater bekommen. Akio ist dein älterer Bruder, ich bin deine Schwester.«
»Wir sehen uns nicht sehr ähnlich.« Ich warf die Bälle hoch.
»Wir werden uns schon noch ähnlich genug. Mein Vater hat gesagt, du könntest dein Aussehen bis zu einem gewissen Grad verändern.«
»Was ist mit unserem Vater passiert?« Rundum und hoch sprangen die Bälle, der Kreis, der Springbrunnen…
»Er ist tot.«
»Wie bequem.«
Yuki überhörte das. »Wir reisen zum Herbstfest nach Matsue. Je nach Wetter brauchen wir fünf oder sechs Tage. Arai lässt immer noch nach dir suchen, aber nicht mehr so intensiv wie in den letzten Tagen. Er ist bereits auf dem Weg nach Inuyama. Wir reisen in die entgegengesetzte Richtung. Übernachten können wir in sicheren Häusern. Aber die Straße gehört niemandem. Wenn wir irgendwelchen Patrouillen begegnen, musst du beweisen, wer du bist.«
Ich ließ einen der Bälle fallen und bückte mich danach.
»Du darfst sie nicht fallen lassen«, sagte Yuki. »Keiner in deinem Alter lässt sie je fallen. Mein Vater hat auch gesagt, dass du dich gut als jemand anderen ausgeben kannst. Bring keinen von uns in Gefahr.«
Wir verließen das Haus durch die Hintertür. Kenjis Frau kam heraus und verabschiedete uns. Prüfend betrachtete sie mein Haar und meine Kleidung. »Ich hoffe, wir sehen uns wieder«, sagte sie, »aber bei deinem Leichtsinn rechne ich kaum damit.«
Ich verneigte mich schweigend vor ihr. Aldo war bereits im Hof mit einem Handkarren wie dem, in den sie mich in Inuyama verfrachtet hatten. Auf Aldos Anweisung stieg ich hinein zu den Requisiten und Kostümen. Yuki gab mir mein Messer. Ich freute mich, es wiederzusehen, und steckte es in meine Kleider.
Akio hob die Karrengriffe und fing an zu schieben.
Ich schaukelte im Halbdunkel durch die Stadt, horchte auf ihre Geräusche und auf die Gespräche der Schauspieler. Die Stimme des anderen Mädchens aus Inuyama, Keiko, erkannte ich. Außerdem war ein weiterer Mann bei uns: Seine Stimme hatte ich im Haus gehört, doch gesehen hatte ich ihn nicht.
Als wir die letzten Häuser ein Stück weit hinter uns hatten, hielt Akio an, öffnete den Karren an der Seite und hieß mich aussteigen. Es war um die zweite Hälfte der Ziegenstunde und trotz der herbstlichen Jahreszeit immer noch sehr warm. Akio glänzte vor Schweiß. Weil er den Wagen schieben musste, hatte er sich fast ganz ausgezogen. Ich konnte sehen, wie kräftig er war, größer als ich und viel muskulöser. Er ging zum Bach neben der Straße, trank und spritzte sich Wasser auf den Kopf und ins Gesicht. Yuki, Keiko und der Ältere hockten am Straßenrand. Ich erkannte sie kaum wieder. Sie hatten sich in eine Truppe von Schauspielern verwandelt, die sich von Stadt zu Stadt ihr unsicheres Einkommen verdiente und von ihrem Witz und ihren
Weitere Kostenlose Bücher