Der Pfad im Schnee
raste es hektisch vor Erregung und Furcht. Die Meilen, die noch vor ihr lagen, kamen ihr endlos vor, und doch brachten die Pferde mit ihrem gleichmäßigen Gang sie nur zu schnell hinter sich. Kaede fürchtete sich besonders vor dem, was sie zu Hause erwartete.
Sie sah Landschaften, die sie zu erkennen glaubte, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch als sie endlich zu dem von Mauern umgebenen Garten und dem Tor ihres Elternhauses kamen, erkannte sie nichts davon. Hier konnte sie doch nicht gelebt haben? Es war so klein; es war noch nicht einmal zur Verteidigung befestigt und bewacht. Das Tor stand weit offen. Als Raku hindurchging, zog Kaede wider Willen hörbar die Luft ein.
Shizuka war bereits vom Pferderücken geglitten. Sie schaute auf. »Was ist, Lady?«
»Der Garten«, rief Kaede. »Was ist damit passiert?«
Überall hatten die heftigen Unwetter Spuren hinterlassen. Eine entwurzelte Kiefer lag über dem Bach. Bei ihrem Sturz hatte sie eine steinerne Laterne umgeworfen und zerschmettert. Kaede hatte eine blitzartige Erinnerung: die Laterne, neu errichtet, mit einem Licht darin, am Abend, vielleicht beim Totenfest. Eine Lampe schwamm stromab und sie spürte die Hand ihrer Mutter auf ihrem Haar.
Verständnislos starrte sie den verwüsteten Garten an. Das waren nicht nur Sturmschäden. Offensichtlich hatte sich seit Monaten niemand mehr um Sträucher oder Moos gekümmert, die Bassins gereinigt oder die Bäume beschnitten. War das ihr Haus auf einer der wichtigsten Domänen des Westens? Was war dem einst mächtigen Shirakawa zugestoßen?
Das Pferd senkte den Kopf und rieb ihn am Vorderbein. Es wieherte ungeduldig und erschöpft; jetzt, wo sie angehalten hatten, wollte es abgesattelt und gefüttert werden.
»Wo sind die Wachtposten?«, fragte Kaede. »Wo sind denn alle?«
Der Mann, den sie Narbe nannte, der Hauptmann der Eskorte, ritt zur Veranda, beugte sich vor und schrie: »Hallo! Ist jemand da?«
»Geh nicht hinein«, rief Kaede ihm zu. »Warte auf mich. Ich gehe zuerst ins Haus.«
Langarm stand bei Rakus Kopf und hielt die Zügel. Kaede glitt vom Pferderücken in Shizukas Arme. Aus dem Regen war ein feines, leichtes Nieseln geworden, das ihre Haare und Kleider besprühte. Der Garten roch widerlich nach Feuchtigkeit und Verfall, saurer Erde und welkem Laub. Kaede sah das Bild vom Zuhause ihrer Kindheit, das sie acht lange Jahre strahlend und unversehrt in ihrem Herzen bewahrt hatte, mit unerträglicher Intensität vor sich und dann verschwand es für immer.
Langarm gab die Zügel einem der unberittenen Soldaten, zog das Schwert und ging Kaede voraus. Shizuka folgte ihnen.
Als Kaede aus ihren Sandalen schlüpfte und die Veranda betrat, fühlte sich das Holz einigermaßen vertraut an. Doch den Geruch des Hauses erkannte sie nicht wieder. Es war das Heim eines Fremden.
Im Inneren gab es eine plötzliche Bewegung und Langarm sprang vor in die Schatten. Eine Mädchenstimme schrie erschrocken auf. Der Mann zog das Mädchen auf die Veranda.
»Lass sie los«, befahl Kaede zornig. »Wie kannst du es wagen, sie anzurühren?«
»Er beschützt Sie nur«, murmelte Shizuka, doch Kaede hörte sie nicht. Sie trat auf das Mädchen zu, griff nach ihren Händen und starrte ihr ins Gesicht. Das Mädchen war fast so groß wie Kaede, sie hatte sanfte Züge und hellbraune Augen wie ihr Vater.
»Ai? Ich bin deine Schwester, Kaede. Erinnerst du dich nicht an mich?«
Das Mädchen starrte zurück. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Schwester? Bist du es wirklich? Einen Augenblick, gegen das Licht… dachte ich, du seist unsere Mutter.«
Kaede nahm ihre Schwester in die Arme, sie spürte, dass auch ihr Tränen in die Augen traten. »Sie ist tot, nicht wahr?«
»Seit mehr als zwei Monaten. Ihre letzten Worte galten dir. Sie sehnte sich danach, dich zu sehen, doch die Nachricht von deiner Heirat brachte ihr Frieden.« Ai stockte und entzog sich Kaedes Umarmung. »Warum bist du hierher gekommen? Wo ist dein Mann?«
»Habt ihr keine Neuigkeiten aus Inuyama erfahren?«
»In diesem Jahr haben uns Taifune heimgesucht. Viele Menschen starben und die Ernte wurde zerstört. Wir haben so wenig gehört - nur Gerüchte vom Krieg.
Nach dem letzten Sturm zog eine Armee durchs Land, aber wir haben kaum verstanden, für wen sie kämpften oder warum.«
»Arais Armee?«
»Es waren Seishuu aus Maruyama und von weiter nördlich. Sie hatten vor, Lord Arai gegen die Tohan zu unterstützen. Vater war empört, weil er sich als
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