Der Pfad im Schnee
Staub.
»Steht auf«, sagte er. »Woher kommt ihr?« Er hatte ein quadratisches Gesicht mit dichten Brauen, dünnem Mund und vorgeschobenem Kinn. Mit dem Handrücken wischte er sich den Reis von den Lippen.
»Yamagata.« Akio gab die Trommel Yuki und hielt ihm eine Holztafel hin. Darauf standen unsere Namen, der Name unserer Gilde und unsere Lizenz von der Stadt. Der Kommandant betrachtete sie lange, entzifferte unsere Namen, schaute dann von einem zum anderen und musterte unsere Gesichter. Keiko drehte die Kreisel. Die Männer sahen ihr mit mehr als müßigem Interesse zu. Schauspielerinnen waren für sie das Gleiche wie Prostituierte. Einer von ihnen machte ihr einen spöttischen Vorschlag; sie lachte zurück.
Ich lehnte mich an den Karren und wischte mir den Schweiß aus dem Gesicht.
»Was macht denn Minoru?«, fragte der Kommandant und gab Akio die Tafel zurück.
»Mein jüngerer Bruder? Er ist Jongleur. Das ist der Familienberuf.«
»Dann soll er mal was zeigen.« Der Kommandant öffnete die dünnen Lippen zu einer Art Lächeln.
Akio zögerte keinen Augenblick. »He, kleiner Bruder. Zeig’s dem Herrn.«
Ich wischte mir die Hände am Stirnband ab und knotete es mir wieder um den Kopf. Dann nahm ich die Bälle aus dem Beutel, spürte ihre glatte Oberfläche, ihr Gewicht und wurde in diesem Moment Minoru. Das war mein Leben. Nie hatte ich etwas anderes gekannt: die Straße, das neue Dorf, die misstrauischen feindseligen Blicke. Ich vergaß meine Müdigkeit, mein Kopfweh, die Blasen an den Händen. Ich war Minoru und tat, was ich getan hatte, seit ich allein stehen konnte.
Die Bälle flogen in die Luft. Zuerst nahm ich vier, dann fünf. Ich hatte gerade die zweite Folge des Springbrunnens beendet, da machte Akio mich mit einer Kopfbewegung auf sich aufmerksam. Ich ließ die Bälle in seine Richtung fliegen. Er fing sie mühelos und warf mit ihnen die Tafel in die Luft. Dann schleuderte er sie zu mir zurück. Die scharfe Kante der Tafel schlug auf meine Handfläche mit den Blasen. Ich war wütend und fragte mich, was seine Absicht war: Wollte er mich vorführen? Auch verhöhnen? Ich kam aus dem Rhythmus. Tafel und Bälle fielen in den Staub.
Der Kommandant lächelte nicht mehr. Er trat einen Schritt vor. In diesem Moment kam mir eine verrückte Idee: mich ihm zu ergeben, mich Arais Gnade auszuliefern, dem Stamm zu entfliehen, bevor es zu spät war.
Aldo schien auf mich zuzufliegen. »Idiot!«, brüllte er und versetzte mir eine Ohrfeige. »Unser Vater würde sich im Grab umdrehen!«
Sobald er die Hand gegen mich hob, wusste ich, dass meine Maskerade nicht aufzuheben war. Es wäre für einen Schauspieler undenkbar gewesen, einen Otorikrieger zu schlagen. Die Ohrfeige verwandelte mich eindeutiger als alles andere wieder in Minoru.
»Verzeih mir, älterer Bruder«, sagte ich, hob Bälle und Tafel auf und ließ sie durch die Luft wirbeln, bis der Kommandant lachte und uns weiterwinkte.
»Kommt heute Abend in unsere Vorstellung!«, rief Keiko den Soldaten zu.
»Ja, heute Abend«, riefen sie zurück.
Kazuo fing wieder an zu singen, Yuki schlug die Trommel. Ich warf Aldo die Tafel zu und verstaute die Bälle. Sie waren dunkel vom Blut. Ich umklammerte wieder die Karrengriffe. Die Sperre wurde weggehoben, und wir gingen zum Dorf, das dahinter lag.
KAPITEL 4
Kaede brach an einem schönen Herbstmorgen zur letzten Tagesetappe ihrer Heimreise auf; der Himmel war von einem klaren Blau, die Luft kühl und leicht wie Quellwasser. Nebel hing in den Tälern und über dem Fluss, versilberte Spinnennetze und die Ranken wilder Klematis. Doch gerade vor der Mittagszeit veränderte sich das Wetter. Wolken zogen von Nordwesten über den Himmel und der Wind drehte. Das Licht schien früh zu verblassen und vor dem Abend begann es zu regnen.
Unwetter hatten schwere Schäden auf den Reisfeldern, in Gemüsegärten und bei den Obstbäumen angerichtet. Die Dörfer wirkten halb entvölkert, die wenigen Bewohner starrten Kaede mürrisch an und verbeugten sich nur, wenn die Wachen sie bedrohten, und auch dann widerwillig. Sie wusste nicht, ob sie erkannt wurde oder nicht; sie wollte sich nicht bei ihnen aufhalten, doch sie fragte sich, warum die Schäden nicht behoben worden waren, warum die Männer nicht auf den Feldern arbeiteten, um von der Ernte zu retten, was noch zu retten war.
Ihr Herz war unentschlossen. Manchmal schlug es vor bösen Ahnungen langsamer und gab ihr das Gefühl, sie könne ohnmächtig werden, dann wieder
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