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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Akio landete, stach ich mit einer Hand nach ihm. Er bewegte sich so schnell wie immer und wich dem Messer mühelos aus. Ich hatte dieses Manöver vorausgesehen und traf ihn mit dem Ruder in der anderen Hand seitlich am Kopf. Er fiel und war einen Augenblick lang betäubt, während ich durch das heftige Schaukeln aus dem Gleichgewicht kam und fast über Bord gefallen wäre. Ich ließ das Ruder los und klammerte mich an die seitliche Holzwand des Boots. In das eisige Wasser wollte ich höchstens mit ihm zusammen, dann würde ich ihn ertränken. Als ich auf die andere Seite des Boots schlüpfte, kam Akio zu sich. Er sprang hoch und stürzte sich auf mich. Wir fielen beide, und er packte mich an der Kehle.
    Ich war immer noch unsichtbar, lag aber hilflos unter ihm wie ein Karpfen auf dem Hackklotz des Kochs. Vor meinen Augen wurde es schwarz, dann lockerte Akio ein wenig seinen Griff.
    »Du Verräter«, sagte er. »Kenji hat uns gewarnt, er sagte, am Ende würdest du zu den Otori zurückgehen. Ich bin froh, dass es so gekommen ist, weil ich dich seit unserer ersten Begegnung tot sehen wollte. Jetzt wirst du bezahlen. Für deine Unverschämtheit gegenüber den Kikuta, für meine Hand. Und für Yuki.«
    »Töte mich«, sagte ich, »wie deine Familie meinen Vater getötet hat. Ihr werdet nie unseren Geistern entkommen. Verflucht und verfolgt werdet ihr sein bis zum Tag eures Todes. Ihr habt euren eigenen Angehörigen getötet.«
    Das Boot bewegte sich unter uns, es trieb mit der Strömung. Wenn Akio in dem Moment seine Hände oder das Messer gebraucht hätte, würde ich diese Geschichte nicht erzählen. Doch auf eine letzte höhnische Bemerkung wollte er nicht verzichten. »Dein Kind wird meines sein. Ich werde es zu einem richtigen Kikuta erziehen.« Er schüttelte mich heftig. »Zeig mir dein Gesicht«, zischte er. »Ich will deinen Blick sehen, wenn ich dir sage, wie ich ihm beibringen werde, die Erinnerung an dich zu hassen. Ich will sehen, wie du stirbst.«
    Er beugte sich noch tiefer über mich, seine Augen suchten mein Gesicht. Das Boot trieb in den Mondschein. Als ich dessen Helligkeit bemerkte, wurde ich sichtbar und schaute Akio direkt in die Augen. Ich sah, was ich finden wollte: den eifersüchtigen Hass auf mich, der sein Urteilsvermögen trübte und ihn schwächte.
    Er erkannte die Gefahr im Bruchteil einer Sekunde und versuchte seinen Blick abzuwenden, doch der Schlag mit dem Ruder musste seine übliche Schnelligkeit beeinträchtigt haben, es war zu spät. Ihm wurde schon schwindlig vom überwältigenden Kikutaschlaf. Er sackte zur Seite, seine Lider flatterten unregelmäßig, während er dagegen ankämpfte. Das Boot neigte sich und schaukelte. Akios Gewicht beförderte ihn kopfüber in den Fluss.
    Das Boot, von der zunehmenden Flut getragen, glitt jetzt schneller weiter. Im Mondlichtstreifen über dem Wasser sah ich, wie der Körper an die Oberfläche kam. Er trieb sanft dahin. Ich fuhr nicht zurück, um ihn zu töten. Ich hoffte, er würde ertrinken oder erfrieren, aber ich überließ es dem Schicksal. Ich nahm das Ruder und steuerte das Boot zum anderen Ufer.
    Als ich es erreichte, zitterte ich vor Kälte. Die ersten Hähne krähten und der Mond stand tief am Himmel. Das Gras auf dem Damm war steif gefroren, Steine und Zweige schimmerten weiß. Ich schreckte einen schlafenden Reiher auf und fragte mich, ob er es war, der zum Fischen in Shigerus Garten kam. Mit dem vertraut klingenden Flügelschlag flog er aus den höchsten Ästen der Weide.
    Ich war erschöpft, doch viel zu aufgeregt, um an Schlaf zu denken, außerdem musste ich mich bewegen, um warm zu bleiben. Also zwang ich mich zu einem raschen Tempo auf der schmalen Bergstraße, die nach Südosten führte. Der Mond schien hell und ich kannte den Weg. Bei Tagesanbruch hatte ich den ersten Pass hinter mir und näherte mich einem kleinen Dorf im Tal. Kaum jemand war wach, aber eine alte Frau blies in die Glut in ihrem Herd und wärmte mir für eine Münze ein wenig Suppe. Ich jammerte ihr etwas vor über meinen senilen alten Herrn, der mich wegen eines hoffnungslosen Vorhabens durch die Berge zu einem abgelegenen Tempel schickte. Der Winter würde ihn zweifellos töten und ich würde dann dort gestrandet sein.
    Sie lachte gackernd und sagte: »Dann wirst du Mönch werden müssen!«
    »Nicht ich. Dafür mag ich Frauen zu sehr.«
    Das gefiel ihr und sie gab mir ein paar frisch eingelegte Pflaumen zu meinem Frühstück. Als sie meine Münzen sah, wollte sie

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