Der Pfad im Schnee
müssten ans Schloss zurückfallen. Ich habe einen weiteren Beweis für die Rechtmäßigkeit deiner Ansprüche gesucht, damit du behalten kannst, was dir gehört.« Seine Stimme wurde stärker und drängender. »Du musst zurückkommen, Takeo. Der halbe Clan wird dich unterstützen für das, was du in Inuyama getan hast. Viele vermuten, dass Shigerus Onkel seinen Tod geplant haben, und sind darüber empört. Komm zurück und vollende deine Rache!«
Shigerus Geist war in unserer Nähe. Ich erwartete jeden Augenblick, dass er ins Zimmer kommen würde mit seinem energischen Schritt, dem offenherzigen Lächeln und den dunklen Augen, die so freimütig schauten und so viel verbargen.
»Ich spüre, dass ich das tun muss«, sagte ich langsam. »Sonst werde ich keinen Frieden finden. Doch der Stamm wird sicher versuchen, mich zu töten, wenn ich ihn verlasse - nicht nur versuchen wird er es, er wird keine Ruhe geben, bis es ihm gelungen ist.«
Ichiro holte tief Luft. »Ich glaube nicht, dass ich dich falsch beurteilt habe. Wenn doch, dann kamst du sicher mit der Absicht mich zu töten. Ich bin alt, ich bin bereit, mich auf den Weg zu machen. Aber ich würde Shigerus Arbeit gern beendet sehen. Es stimmt, er hat Aufzeichnungen über den Stamm gemacht. Er glaubte, niemand werde dem Mittleren Land Frieden bringen, solange der Stamm so stark ist, deshalb wollte er alles nur Mögliche über ihn herausfinden und schrieb alles auf. Er sorgte dafür, dass niemand wusste, was in seinen Aufzeichnungen stand, noch nicht einmal ich. Er war äußerst verschwiegen, niemand ahnte je, wie sehr. Das war nötig, denn zehn Jahre lang hatten sowohl Iida wie seine Onkel versucht, ihn loszuwerden.«
»Kannst du mir die Aufzeichnungen geben?«
»Ich werde sie nicht dem Stamm geben«, sagte er. Die Lampe flackerte und zeigte auf seinem Gesicht plötzlich einen verschlagenen Ausdruck, den ich nie zuvor gesehen hatte. »Ich brauche mehr Öl, sonst sitzen wir im Dunkeln. Lass mich Chiyo wecken.«
»Lieber nicht«, sagte ich, obwohl ich zu gern die alte Frau gesehen hätte, die das Haus versorgte und mich wie einen Sohn behandelt hatte. »Ich kann nicht bleiben.«
»Bist du allein gekommen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Kikuta Aldo wartet draußen auf mich.«
»Ist er gefährlich?«
»Es ist so gut wie sicher, dass er versuchen wird, mich zu töten. Besonders wenn ich mit leeren Händen zu ihm zurückkomme.« Ich fragte mich, wie viel Uhr es war, was Akio tat. Das Winterlied des Hauses hüllte mich ein. Ich wollte es nicht verlassen. Meine Wahlmöglichkeiten schienen sich zu verringern. Ichiro würde dem Stamm nie die Schriften überlassen; ich würde ihn nie töten können, um sie zu bekommen. Ich nahm mein Messer aus der Schärpe und spürte sein vertrautes Gewicht in der Hand. »Ich sollte mir jetzt das Leben nehmen.«
»Nun, das wäre eine Antwort«, sagte Ichiro und rümpfte die Nase. »Aber keine sehr befriedigende. Dann hätte ich nachts zwei unruhige Geister zu Besuch. Und Shigerus Mörder blieben unbestraft.«
Die Lampe qualmte. Ichiro stand auf. »Ich hole mehr Öl«, murmelte er. Ich hörte, wie er durchs Haus schlurfte, und dachte an Shigeru. Wie viele Nächte mochte er bis spät in diesem Zimmer gesessen haben? Kisten mit Schriftrollen standen ringsum. Während ich sie betrachtete, fiel mir plötzlich die Holztruhe ein, die ich als Geschenk für den Abt an dem Tag den Hang hinaufgetragen hatte, an dem wir den Tempel besuchten, um Sesshus Gemälde zu betrachten. Ich glaubte zu sehen, wie Shigeru mir zulächelte.
Als Ichiro zurückgekommen war und die Lampe versorgt hatte, sagte er: »Jedenfalls sind die Schriften nicht hier.«
»Ich weiß. Sie sind in Terayama.«
Ichiro grinste. »Wenn du meinen Rat hören willst, obwohl du ihn in der Vergangenheit nie beachtet hast, dann geh dorthin. Geh jetzt, heute Nacht. Ich gebe dir Geld für die Reise. Sie werden dich den Winter über verstecken. Und dort kannst du deine Rache an den Otorilords planen. Das ist es, was Shigeru will.«
»Es ist auch, was ich will. Aber ich habe ein Abkommen mit dem Kikutameister getroffen. Ich bin jetzt durch mein Wort an den Stamm gebunden.«
»Ich denke, du hast zuerst den Otori Treue geschworen«, sagte Ichiro. »Hat Shigeru dir nicht das Leben gerettet, bevor der Stamm überhaupt je von dir gehört hatte?«
Ich nickte.
»Und du hast gesagt, Akio würde dich töten? Sie haben bereits dir gegenüber ihr Wort gebrochen. Kannst du ihm entkommen? Wo ist
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