Der Pfad im Schnee
natürlich im Moment ihres Todes mit ihnen beschäftigt war und später ihre Kadaver häutete. Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich zähneklappernd: »Ich muss weiter.«
»Wohin gehen Sie?«
»Nach Terayama. Dort werde ich den Winter verbringen.«
»Gut«, sagte er und versank in eine seiner üblichen Schweigephasen. Er betete und horchte dabei auf eine innere Stimme, die ihm sagen würde, was er tun sollte. »Es ist gut«, erklärte er schließlich. »Wir werden über den Berg gehen. Wenn Sie die Straße nehmen, werden Sie an der Grenzsperre angehalten, außerdem dauert es sowieso zu lange; es wird schneien, bevor Sie nach Yamagata kommen.«
»Über den Berg?« Ich schaute hinauf zu den zerklüfteten Gipfeln, die sich nach Nordosten erstreckten. Die Straße von Tsuwano nach Yamagata führte unten um die Berge herum, doch Terayama lag direkt hinter ihnen. Über dem Gebirge hingen die Wolken tief und grau mit dem stumpfen feuchten Schimmer, der Schnee ankündigt.
»Es ist ein steiler Anstieg«, sagte Jo-An. »Sie müssen sich ein wenig ausruhen, bevor Sie ihn in Angriff nehmen.«
Ich dachte schon ans Aufstehen. »Ich habe keine Zeit. Ich muss im Tempel sein, bevor es schneit.«
Jo-An betrachtete den Himmel und schnupperte in den Wind. »Heute Nacht wird es zu kalt zum Schneien, aber morgen könnte es anfangen. Wir werden den Geheimen bitten, den Schnee zurückzuhalten.«
Er stand auf und half mir hoch. »Können Sie jetzt gehen? Ich wohne nicht weit von hier. Dort können Sie sich ausruhen, dann bringe ich Sie zu den Männern, die Ihnen den Weg über den Berg zeigen.«
Ich fühlte mich schwach, als hätte mein Körper seine Substanz verloren, fast als hätte ich mich gespalten und wäre irgendwie mit meinem Ebenbild verschwunden. Ich war dem Training des Stammes dankbar, weil es mich gelehrt hatte, die Kraftreserven zu mobilisieren, die den meisten Menschen nicht bewusst sind. Während ich mich auf mein Atmen konzentrierte, spürte ich, wie allmählich eine gewisse Energie und Zähigkeit zurückkamen. Jo-An schrieb es zweifellos der Macht seiner Gebete zu, dass ich wieder zu Kräften kam. Er betrachtete mich einen Moment mit seinen tief liegenden Augen, dann lächelte er kaum wahrnehmbar, drehte sich um und schlug die Richtung ein, aus der wir gekommen waren.
Ich zögerte einen Augenblick; zum einen hasste ich den Gedanken, denselben Weg zurückzugehen und die Strecke aufzugeben, die ich mit so viel Anstrengung hinter mich gebracht hatte; außerdem schreckte ich davor zurück, mich dem Ausgestoßenen anzuvertrauen. Mit ihm nachts allein zu reden war etwas ganz anderes, als an seiner Seite zu wandern, in seiner Gesellschaft gesehen zu werden. Ich sagte mir, dass ich noch kein Otorilord war und nicht länger einer vom Stamm, dass Jo-An mir Hilfe und Obdach anbot, dennoch war mir unbehaglich, als ich ihm folgte.
Nach weniger als einer Stunde bogen wir von der Straße ab auf einen Pfad, der dem Ufer eines schmalen Flusses durch ein paar armselige Dörfer folgte. Kinder liefen herbei und bettelten um Nahrung, doch als sie den Ausgestoßenen erkannten, wichen sie zurück. Im zweiten Dorf waren zwei Jungen frech genug, Steine zu werfen. Einer davon traf mich beinah in den Rücken - ich hörte ihn so rechtzeitig, dass ich ausweichen konnte - und ich wollte umkehren und es dem Bengel heimzahlen, doch Jo-An beschwichtigte mich.
Lange bevor wir an die Gerberei kamen, roch ich sie. Der Fluss wurde breiter und floss schließlich in den Hauptkanal. An der Mündung standen Reihen von Holzrahmen, auf die Häute gespannt waren. Hier an diesem feuchten überdachten Ort waren sie vor Frost geschützt, doch wenn der Winter unbarmherziger zuschlug, würden die Häute abgenommen und bis zum Frühjahr gelagert werden. Männer waren schon bei der Arbeit, natürlich lauter Ausgestoßene, halb nackt trotz der Kälte, alle so ausgemergelt wie Jo-An und mit dem verzagten Gesichtsausdruck misshandelter Hunde. Nebel hing über dem Fluss, mit dem Rauch der Holzkohlefeuer vermischt. Eine schwimmende Brücke aus Binsen und Bambus, mit Seilen zusammengebunden, war über den Fluss gespannt worden. Mir fiel ein, wie Jo-An mir gesagt hatte, ich solle zur Brücke der Ausgestoßenen kommen, wenn ich je Hilfe brauchte. Jetzt hatte mich irgendein Schicksal hierher gebracht - er würde zweifellos sagen, die Macht des geheimen Gottes.
Hinter den Rahmen standen ein paar kleine Holzhütten. Sie sahen aus, als würde ein kräftiger Wind sie
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