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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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auf die Knochen durchgefroren und zitterte unkontrollierbar. Ich war froh über das Morgengrauen, aber es half nicht gegen die bittere Kälte. Stattdessen machte es mir bewusst, wie allein ich war. Zum ersten Mal schlich sich heimtückisch der Gedanke in meinen Kopf, dass ich mich ergeben würde, wenn die Lehnsgrenze von Arais Männern besetzt wäre. Sie würden mich zu Arai bringen, aber vorher würden sie mir bestimmt etwas Heißes zu trinken geben. Sie würden mich im Warmen sitzen lassen und mir Tee machen. Der Gedanke an diesen Tee ließ mich nicht mehr los. Ich konnte die Hitze des Dampfs im Gesicht spüren, die Wärme der Schale an den Händen. Ich war von dieser Vorstellung so besessen, dass ich nicht bemerkte, wie jemand hinter mir herging.
    Plötzlich wurde mir bewusst, dass sich da eine Person befand. Erstaunt, weil ich weder den Schritt auf der Straße noch das Atmen gehört hatte, drehte ich mich um. Der offensichtliche Verlust meines Hörvermögens verwunderte und erschreckte mich. Es kam mir vor, als wäre dieser Reisende vom Himmel gefallen oder hätte über dem Boden geschwebt, wie es die Toten tun. Dann erkannte ich, dass entweder die Erschöpfung meinen Verstand ausgeschaltet hatte oder ich tatsächlich einen Geist sah, denn der Mann direkt hinter mir war der Ausgestoßene Jo-An, von dem ich angenommen hatte, er sei durch Arais Männer in Yamagata zu Tode gefoltert worden.
    So groß war der Schock, dass ich glaubte, ich würde bewusstlos. Das Blut strömte aus meinem Kopf und ich taumelte. Jo-An packte mich, als ich fiel, seine Hände wirkten lebendig genug, stark und fest, sie rochen nach Gerberei. Erde und Himmel drehten sich um mich und schwarze Flecken verdunkelten meine Sicht. Er setzte mich behutsam auf den Boden und schob mir den Kopf zwischen die Beine. Etwas brauste in meinen Ohren und betäubte mich. So hockte ich da, er hielt mir den Kopf, bis das Brausen abnahm und die Schwärze vor meinen Augen wich. Ich starrte auf den Boden. Raureif bedeckte das Gras und winzige schwarze Eisstückchen lagen zwischen den Steinen. Der Wind heulte in den Zedern. Davon abgesehen kam das einzige Geräusch von meinen klappernden Zähnen.
    Jo-An redete. Kein Zweifel, das war seine Stimme. »Verzeihen Sie mir, Lord. Ich habe Sie überrascht. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
    »Man hat mir gesagt, du seist tot. Ich wusste nicht, ob du lebendig bist oder ein Geist.«
    »Nun, eine Zeit lang war ich vielleicht gestorben«, flüsterte er. »Arais Männer haben das geglaubt und meine Leiche ins Moor geworfen. Doch der geheime Gott hatte andere Pläne mit mir und schickte mich zurück in diese Welt. Meine Arbeit hier ist noch nicht getan.«
    Ich hob vorsichtig den Kopf und betrachtete ihn. Er hatte eine noch nicht lange verheilte Narbe, die sich von der Nase bis zum Ohr zog, und mehrere Zähne fehlten ihm. Ich fasste ihn am Handgelenk und drehte die Hand herum, damit ich sie anschauen konnte. Er hatte keine Nägel mehr, die Finger waren zerschlagen und verkrümmt.
    »Ich sollte dich um Vergebung bitten«, sagte ich betroffen.
    »Nichts geschieht mit uns, was Gott nicht geplant hat«, entgegnete er.
    Ich fragte mich, warum die Pläne irgendeines Gottes Folter einschließen mussten, sagte das aber nicht zu Jo-An. Stattdessen fragte ich: »Wie hast du mich gefunden?«
    »Der Bootsmann hat mich aufgesucht und mir gesagt, dass er jemanden, den er für dich hielt, über den Fluss gerudert hat. Ich habe auf Nachricht von dir gewartet. Ich wusste, dass du zurückkommen würdest.« Er nahm das Bündel, das er an den Straßenrand gelegt hatte, und packte es aus. »Die Prophezeiung muss schließlich erfüllt werden.«
    »Welche Prophezeiung?« Mir fiel ein, dass Kenjis Frau ihn einen Wahnsinnigen genannt hatte.
    Er antwortete nicht, nahm zwei kleine Hirsekuchen aus dem Tuch, sprach über ihnen ein Gebet und gab mir einen Kuchen.
    »Immer gibst du mir zu essen«, sagte ich. »Aber ich glaube nicht, dass ich etwas zu mir nehmen kann.«
    »Dann trinken Sie.« Jo-An reichte mir eine plumpe Bambusflasche. Eigentlich wollte ich auch nichts trinken, aber vielleicht würde es mich wärmen. Sobald der Alkohol in meinen Magen drang, kam jedoch die Dunkelheit brausend zurück, ich musste mich mehrmals heftig übergeben und schauderte immer wieder gequält.
    Jo-An schnalzte mit der Zunge, als hätte er ein Pferd oder einen Ochsen vor sich. Er hatte die geduldige Art eines Mannes, der an den Umgang mit Tieren gewöhnt ist, obwohl er

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