Der Pfad im Schnee
mir neben Essen auch eine Unterkunft geben. Die Mahlzeit hatte den Schlafdämon angelockt und ich hätte mich zu gern hingelegt, doch ich fürchtete erkannt zu werden und bedauerte schon, ihr so viel erzählt zu haben. Ich hatte zwar Akio im Fluss zurückgelassen, doch ich wusste, wie der Fluss seine Opfer freigibt, die lebenden wie die toten, und fürchtete seine Verfolgung. Ich war nicht stolz darauf, dass ich dem Stamm abtrünnig geworden war, nachdem ich ihm Gehorsam geschworen hatte, und im kalten Morgenlicht wurde mir klar, wie der Rest meines Lebens aussehen würde. Ich hatte mich entschieden, zu den Otori zurückzukehren, aber jetzt würde die Bedrohung durch mögliche Attentate für immer Teil meines Lebens sein. Eine ganze Geheimorganisation würde aufgeboten werden, um mich für meine Treulosigkeit zu bestrafen. Um durch ihr Netz zu schlüpfen, musste ich mich schneller bewegen als jeder ihrer Boten. Und ich musste Terayama erreichen, bevor es anfing zu schneien.
Der Himmel war bleifarben, als ich am Nachmittag des zweiten Tags Tsuwano erreichte. Ich dachte nur noch an meine dortige Begegnung mit Kaede und an das Schwertkampftraining, bei dem ich mich in sie verliebt hatte. Stand ihr Name schon im Buch der Toten? Würde ich jetzt alljährlich beim Totenfest Kerzen für sie anzünden müssen, bis ich starb? Würden wir in der Nachwelt miteinander verbunden werden oder waren wir dazu verdammt, uns weder im Leben noch im Tod wiederzusehen? Kummer und Scham nagten an mir. Sie hatte gesagt: Ich bin nur bei dir sicher, und ich hatte sie verlassen. Wenn das Schicksal gütig sein sollte und sie wieder in meine Hände käme, würde ich sie nie mehr gehen lassen.
Ich bereute bitter meine Entscheidung, mich dem Stamm anzuschließen, und dachte immer wieder über die Gründe nach, die dazu geführt hatten. Ich glaubte, ich hätte eine Abmachung mit ihnen getroffen und mein Leben sei ihnen zu opfern - das war das eine. Doch darüber hinaus gab ich meiner Eitelkeit die Schuld. Ich hatte die Seite meines Charakters kennen und entwickeln wollen, die von meinem Vater kam, von den Kikuta, vom Stamm: die dunkle Erbschaft, der ich Fähigkeiten verdankte, auf die ich stolz war. Eifrig und willig hatte ich auf die Verlockung der Stammesangehörigen reagiert, auf die Mischung aus Schmeichelei, Verständnis und Brutalität, mit der sie mich manipuliert hatten. Ich fragte mich, wie groß meine Chance war, von ihnen wegzukommen.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich wanderte in einer Art Benommenheit dahin. Mitten am Tag schlief ich ein wenig in einer Grube am Rand der Straße, doch die Kälte weckte mich. Ich konnte nur warm bleiben, wenn ich mich bewegte. Ich umging die Stadt, stieg am Pass hinunter und kam beim Fluss wieder auf die Straße. Die Strömung hatte nachgelassen seit der großen Flut durch die Unwetter, die uns in Tsuwano aufgehalten hatten, und die Ufer waren in Stand gesetzt, doch die einzige Brücke meilenweit, aus Holz gebaut, war immer noch zerstört. Ich bezahlte einem Bootsmann die Überfahrt. Niemand sonst war unterwegs, ich war sein letzter Kunde. Ich merkte, dass er mich neugierig musterte, aber er redete nicht mit mir. Ich konnte ihn nicht als Stammesmitglied erkennen, dennoch machte er mich unruhig. Auf der anderen Seite setzte er mich ab und ich ging schnell davon. Als ich um die Ecke bog, beobachtete er mich immer noch. Ich grüßte mit einer Kopfbewegung, doch er reagierte nicht darauf.
Es war kälter denn je, die Luft war feucht und eisig. Ich bedauerte schon, dass ich kein Obdach für die Nacht gefunden hatte. Wenn mich ein Schneesturm vor der nächsten Stadt erwischte, hatte ich wenig Aussicht zu überleben. Yamagata war noch mehrere Tagesreisen entfernt. An der Lehnsgrenze gab es eine Poststation, in der ich trotz Ichiros Brief und meiner Verkleidung als Diener die Nacht nicht verbringen wollte - dort waren zu viele neugierige Leute, zu viele Wachtposten. Ich wusste nicht, was tun, also ging ich weiter.
Die Nacht brach herein. Selbst mit meinen vom Stamm trainierten Augen konnte ich kaum die Straße sehen. Zweimal kam ich davon ab und musste zurückgehen. Einmal stolperte ich in ein Loch oder eine Grube, halb mit Wasser gefüllt, und bekam nasse Beine bis zu den Knien. Der Wind heulte und seltsame Geräusche kamen aus dem Wald, die mich an Legenden über Ungeheuer und Kobolde erinnerten und mich glauben ließen, die Toten würden mir folgen.
Als der Himmel im Osten hell wurde, war ich bis
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