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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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kleinen Dorf fest. Kaede war durch den Regen an ein enges, unbequemes Zimmer gefesselt und wurde immer unruhiger. Gedanken an ihre Mutter quälten sie. Wenn Kaede die Erinnerung an sie heraufbeschwören wollte, begegnete ihr nur Dunkelheit. Sie versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen, vergeblich. Ebenso wenig konnte sie sich das Aussehen ihrer Schwestern vor Augen führen. Die Jüngste würde fast neun sein. Kaede fürchtete, dass ihre Mutter tot war; dann müsste sie ihren Platz einnehmen, eine Mutter für ihre Schwestern sein, den Haushalt führen - das Kochen, Putzen, Weben und Nähen überwachen, all die ständigen Pflichten der Frauen, in denen die Mädchen von ihren Müttern und Tanten und Großmüttern unterwiesen wurden. Kaede verstand nichts von solchen Dingen. Als sie eine Geisel gewesen war, hatte die Familie Noguchi sie vernachlässigt. Sie hatten ihr nur wenig beigebracht; während sie wie ein Dienstmädchen umherlief und die Krieger bediente, hatte sie lediglich gelernt, im Schloss zu überleben. Nun, jetzt würde sie sich diese praktischen Kenntnisse aneignen müssen. Das Kind schenkte ihr Gefühle und Instinkte, die sie zuvor nicht gekannt hatte: den Instinkt, sich um ihre Angehörigen zu kümmern. Sie dachte an die Gefolgsleute in Shirakawa, Männer wie Shoji Kiyoshi und Amano Tenzo, die ihren Vater begleitet hatten, als er sie im Schloss Noguchi besuchte, und an die Hausbediensteten wie Ayame, die sie fast so sehr wie ihre Mutter vermisst hatte, als sie mit sieben fortgebracht worden war. Ob Ayame noch lebte? Würde sie sich an das Mädchen erinnern, um das sie sich gekümmert hatte? Kaede kehrte zurück, angeblich verheiratet und verwitwet, ein weiterer Mann war ihretwegen gestorben und schwanger war sie zudem. Wie würde sie in ihrem Elternhaus aufgenommen werden? Die Verzögerung irritierte auch die Männer. Kaede spürte, dass sie diese ermüdende Aufgabe hinter sich bringen wollten, dass sie daraufbrannten, in die Schlachten zurückzukehren, die ihre eigentliche Arbeit waren, ihr Leben. Sie wollten an Arais Siegen über die Tohan im Osten beteiligt sein, statt fern von den Ereignissen zwei Frauen im Westen zu beschützen.
    Arai war nur einer von ihnen, dachte sie verwundert. Wie war er plötzlich so mächtig geworden? Was an ihm veranlasste diese Männer, jeder von ihnen erwachsen und körperlich kräftig, ihm folgen und gehorchen zu wollen? Sie erinnerte sich wieder an die jähe Grausamkeit, mit der er dem Wachtposten, der sie im Schloss Noguchi angegriffen hatte, die Kehle durchschnitt. Arai würde ohne Zögern jeden dieser Männer ebenso töten. Doch nicht aus Angst gehorchten sie ihm. War es eine Art Vertrauen in diese Grausamkeit, in diese Bereitschaft, sofort zu handeln, ob die Handlung nun gut war oder schlecht? Würden sie je einer Frau so vertrauen? Könnte sie selbst solche Männer befehligen wie er? Würden Krieger wie Shoji und Amano ihr gehorchen?
    Der Regen hörte auf und sie zogen weiter. Das Unwetter hatte die letzte Feuchtigkeit hinweggefegt, jetzt strahlten die Tage, der Himmel dehnte sich weit und blau über den Berggipfeln, auf denen die Ahornbäume jeden Tag mehr Rot zeigten. Die Nächte wurden kühler und brachten schon einen Hauch von künftigem Frost.
    Die Reise zog sich hin, die Tage waren lang und ermüdend. Schließlich sagte Shizuka eines Morgens: »Das ist der letzte Pass. Morgen sind wir in Shirakawa.«
    Sie stiegen einen steilen Pfad hinab, der so dicht mit Tannennadeln bedeckt war, dass die Pferdehufe keinen Lärm machten. Shizuka ging neben Raku, während Kaede ritt. Zwischen den Tannen und Zedern war es dunkel, aber knapp vor ihnen fielen Sonnenstrahlen schräg durch ein Bambusgehölz und verbreiteten ein gesprenkeltes grünliches Licht.
    »Warst du schon einmal auf diesem Weg?«, fragte Kaede.
    »Schon oft. Zum ersten Mal Vorjahren. Ich war jünger als Sie jetzt und wurde nach Kumamoto geschickt, um für die Familie Arai zu arbeiten. Der alte Lord lebte damals noch. Er herrschte mit eiserner Faust über seine Söhne, doch der älteste, Daiichi, fand trotzdem Wege, mit den Dienerinnen ins Bett zu gehen. Ich widerstand ihm lange - das ist, wie Sie wissen, nicht einfach für Mädchen, die in Schlössern leben. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dass er mich nicht so schnell vergessen sollte wie die meisten anderen. Und natürlich hatte ich auch die Anweisungen meiner Familie, der Muto.«
    »Du hast ihn also die ganze Zeit bespitzelt«, murmelte Kaede.
    »Gewisse

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