Der Pfad im Schnee
ziemlich kluger Bursche und ein harter Kämpfer. Man unterschätzt ihn leicht oder beurteilt ihn falsch. Nicht nur Sie hat er überrascht. Hatten Sie in diesem Augenblick Angst?«
Kaede versuchte sich zu erinnern. »Nein, vor allem, weil dazu keine Zeit war. Ich habe mir ein Schwert gewünscht.«
Shizuka sagte: »Sie verfügen über die Gabe des Muts.«
»Das stimmt nicht. Ich habe oft Angst.«
»Das glaubt Ihnen keiner«, murmelte Shizuka. Sie waren inzwischen in einer Herberge in einer kleinen Stadt an der Grenze zur Domäne Shirakawa angelangt. Kaede hatte in der heißen Quelle baden können, jetzt trug sie bereits ihr Nachtgewand und wartete auf das Abendessen. Sie war in der Herberge unfreundlich empfangen worden und der Zustand der Stadt machte sie beklommen. Es schien wenig Nahrung zu geben, die Menschen waren missmutig und niedergeschlagen.
Vom Sturz war die eine Seite ihres Körpers voller blauer Flecken und sie fürchtete um ihr Kind. Außerdem machte der Gedanke an das Wiedersehen mit ihrem Vater sie nervös. Würde er glauben, dass sie verheiratet war? Es war ihr unmöglich sich vorzustellen, wie wütend er sein würde, wenn er die Wahrheit herausfand.
»Momentan komme ich mir nicht sehr mutig vor«, gestand sie.
Shizuka sagte: »Ich massiere Ihnen den Kopf. Sie sehen erschöpft aus.«
Doch schon als sie sich zurücklehnte und es genoss, die Finger des Mädchens auf ihrer Kopfhaut zu spüren, wuchsen Kaedes Befürchtungen. Sie erinnerte sich, wovon sie im Augenblick des Überfalls gesprochen hatten.
»Morgen werden Sie zu Hause sein.« Shizuka spürte Kaedes Anspannung. »Die Reise ist fast vorüber.«
»Shizuka, sag die Wahrheit. Warum bleibst du bei mir? Um mich zu bespitzeln? Wer hat die Familie Muto jetzt engagiert?«
»Niemand engagiert uns zurzeit. Iidas Sturz hat die gesamten Drei Länder in Verwirrung gestürzt. Arai sagt, dass er den Stamm auslöschen wird. Wir wissen noch nicht, ob er es ernst meint oder ob er zur Vernunft kommt und mit uns zusammenarbeitet. Inzwischen will mein Onkel Kenji, der Lady Shirakawa sehr bewundert, über ihr Wohlbefinden und ihre Absichten informiert werden.«
Und über mein Kind, dachte Kaede, sprach es aber nicht aus. Stattdessen fragte sie: »Meine Absichten?«
»Sie sind Erbin einer der reichsten und mächtigsten Domänen im Westen, Maruyama, sowie Ihres eigenen Besitzes Shirakawa. Der, den Sie heiraten, wird eine Schlüsselfigur in der Zukunft der Drei Länder sein. Gegenwärtig nimmt jeder an, dass Sie das Bündnis mit Arai aufrechterhalten und seine Stellung im Westen festigen, während er die Otorifrage klärt: Ihr Schicksal ist eng mit dem Clan der Otori und dem Mittleren Land verbunden.«
»Vielleicht heirate ich niemanden«, sagte Kaede, halb zu sich. Und warum, dachte sie, sollte ich in diesem Fall nicht selbst eine Schlüsselfigur werden?
KAPITEL 3
Die Geräusche des Tempels von Terayama, die Mitternachtsglocke, der Gesang der Mönche verklangen, als ich den beiden Meistern Kikuta Kotaro und Muto Kenji einen einsamen, steilen und überwachsenen Pfad am Fluss entlang folgte. Wir gingen schnell, das Wasserrauschen übertönte unsere Schritte. Wir sprachen wenig und wir begegneten niemandem.
Als wir nach Yamagata kamen, brach schon fast der Morgen an und die ersten Hähne krähten. Die Straßen der Stadt waren verlassen, obwohl die Sperrstunde aufgehoben war und die Tohan nicht mehr patrouillierten. Wir gingen zum Haus eines Kaufmanns mitten in der Stadt, nicht weit von der Herberge, in der wir beim Totenfest übernachtet hatten. Ich kannte die Straße bereits von meinen nächtlichen Stadterkundungen. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.
Kenjis Tochter Yuki öffnete das Tor, als hätte sie die ganze Nacht auf uns gewartet, obwohl wir so leise waren, dass noch nicht einmal ein Hund bellte. Sie sagte nichts, doch mir fiel auf, wie intensiv sie mich anschaute. Ihr Gesicht, ihre lebhaften Augen, ihr anmutiger, muskulöser Körper erinnerten mich nur zu deutlich an die schrecklichen Ereignisse in Inuyama in der Nacht, als Shigeru starb. Ich hatte halb erwartet, Yuki in Terayama zu sehen, denn sie war es, die Tag und Nacht gereist war, um Shigerus Kopf zum Tempel zu bringen und die Nachricht von seinem Tod zu verbreiten. Über vieles hätte ich sie gern befragt: ihre Reise, den Aufstand in Yamagata, den Sturz der Tohan. Als ihr Vater und der Kikutameister ins Haus vorausgingen, blieb ich ein wenig zurück, sodass sie und ich gemeinsam auf die
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