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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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das?«
    »Ich weiß es nicht, weil ich nicht weiß, wie ich diese Dinge mache. Die Begabungen sind in mir. Ich habe sie nicht gesucht. Aber Übung verstärkt sie.«
    »Ich nehme an, wie alle Gaben können sie zu Gutem oder zu Bösem eingesetzt werden«, sagte er ruhig.
    »Nun, der Stamm will sie nur zu seinen eigenen Zwecken gebrauchen«, erklärte ich. »Deshalb will er mich nicht am Leben lassen. Wenn du mit mir gehst, bist du in der gleichen Gefahr. Bist du darauf vorbereitet?«
    Er nickte. »Ja, ich bin vorbereitet. Aber erschreckt dich das nicht? Die meisten Menschen würden schwach vor Angst.«
    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich bin oft als furchtlos beschrieben worden, aber das scheint mir ein zu schönes Wort zu sein für einen Zustand, der mehr wie Unsichtbarkeit ist, ein Talent, mit dem ich geboren wurde. Und Furchtlosigkeit habe ich nur von Zeit zu Zeit, sie braucht Energie, wenn sie anhalten soll. Ich kenne Furcht so gut wie jeder andere. Damals wollte ich nicht darüber nachdenken. Ich stand auf und suchte meine Kleidungsstücke zusammen. Sie waren nicht richtig trocken, sie fühlten sich klamm an, als ich sie anzog. Ich ging hinaus, um zu pissen. Die Luft war rau und feucht, doch es schneite nicht mehr und auf dem Boden lag Matsch. Um Hütte und Schrein herum gab es keine Fußspuren außer meinen eigenen, schon halb zugeschneiten. Der Pfad verschwand am abschüssigen Hang. Der Berg und der Wald waren still bis auf den Wind. Aus weiter Ferne hörte ich Krähen, ein wenig näher pfiff ein kleiner Vogel etwas Trauriges. Ich hörte kein Geräusch menschlicher Existenz, keine Axt an einem Stamm, keine Tempelglocke, keinen Dorfhund. Die Quelle des Schreins plätscherte leise. Ich wusch mir Gesicht und Hände in dem eisigen schwarzen Wasser und trank durstig.
    Das war unser ganzes Frühstück. Makoto packte seine wenigen Sachen, schob die Flöten in seinen Gürtel und nahm den Schlagstock. Er war seine einzige Waffe. Ich gab ihm das kurze Schwert, das ich am Tag zuvor meinem Angreifer abgenommen hatte, und er steckte es neben die Flöten in den Gürtel.
    Als wir aufbrachen, schwebten ein paar Flocken herunter und dabei blieb es den ganzen Morgen. Der Pfad war jedoch nicht zu stark verschneit und Makoto kannte natürlich den Weg. Hin und wieder rutschte ich auf einer vereisten Stelle aus oder trat in ein Loch, in dem ich bis zu den Knien versank. Bald war meine Kleidung so nass wie am Abend zuvor. Der Pfad war schmal; wir gingen in raschem Tempo hintereinander und redeten kaum. Makoto schien keine Worte mehr zu haben und ich war zu sehr damit beschäftigt zu horchen - auf den Atem, den brechenden Zweig, das Geräusch der Bogensehne, das Pfeifen des geworfenen Messers. Ich fühlte mich wie ein wildes Tier, immer bedroht, immer gejagt.
    Das Licht verblasste zu Perlgrau und für etwa drei Stunden blieb es so, dann wurde es dunkler. Die Flocken fielen dichter, fingen an zu wirbeln und liegen zu bleiben. Um die Mittagszeit hielten wir an und tranken aus einem kleinen Fluss, doch sobald wir nicht mehr in Bewegung waren, überfiel uns die Kälte, deshalb gingen wir bald weiter.
    »Das ist der Nordfluss, der am Tempel vorbeifließt«, sagte Makoto. »Wir folgen ihm den ganzen Weg. In knapp zwei Stunden sind wir dort.«
    Es kam mir so viel einfacher vor als die bisherige Wanderung ab Hagi. Fast fing ich an mich zu entspannen. Terayama lag nur zwei Stunden entfernt. Ich hatte einen Gefährten. Wir gingen zum Tempel und ich würde den Winter hindurch sicher sein. Doch das Plätschern des Flusses übertönte alle anderen Geräusche und deshalb warnte mich nichts vor den Männern, die auf uns warteten.
    Es waren zwei und sie stürzten sich aus dem Wald auf uns wie Wölfe. Doch sie rechneten mit einem Mann - mit mir - und waren von Makotos Anwesenheit überrascht. Sie glaubten, einen harmlosen Mönch zu sehen, jagten zuerst ihm nach und erwarteten, dass er davonlief. Mit einem Schlag auf den Kopf, der den Schädel gebrochen haben musste, warf Makoto den Ersten zu Boden. Der zweite Mann hatte ein langes Schwert, was mich verblüffte, weil Stammesangehörige gewöhnlich keine Schwerter benutzten. Ich machte mich unsichtbar, als er es nach mir schwang, duckte mich unter seinen ausgestreckten Arm und stieß nach der Schwerthand, weil ich ihn kampfunfähig machen wollte. Das Messer rutschte von seinem Handschuh ab; ich stach wieder zu und ließ mein Ebenbild zu seinen Füßen erscheinen. Der zweite Stich traf und

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