Der Pfad im Schnee
sie den Tod so vieler Männer überlebt hat, die mit ihr in Verbindung waren, gilt als schändlich genug. Aber es ist auch etwas Unnatürliches an ihr. Es heißt, dass sie zwei Gefolgsleute ihres Vaters umbringen ließ, weil sie ihr nicht dienen wollten. Sie liest und schreibt wie ein Mann. Und offenbar baut sie eine Armee auf, um Maruyama im Frühjahr für sich zu beanspruchen.«
»Vielleicht wird sie sich selbst beschützen.«
»Eine Frau?«, entgegnete Makoto verächtlich. »Das ist unmöglich.«
Mein Herz war voller Bewunderung für Kaede. Was würde sie für eine Verbündete sein! Wenn wir heirateten, gehörte uns die Hälfte des Seishuulandes. Maruyama würde mir alle Mittel geben, die ich brauchte, um die Otorilords zu bekämpfen. Sobald das erledigt war, verhinderte nur das frühere Herzland der Tohan, das jetzt Arai gehörte, dass unsere Ländereien sich von Meer zu Meer erstreckten.
Jetzt hatten die Schneefälle begonnen und alles musste warten bis zum Frühjahr. Ich war erschöpft, doch ich brannte vor Ungeduld. Ich fürchtete, Kaede könnte eine nicht rückgängig zu machende Entscheidung treffen, bevor ich sie wiedersah.
»Du hast gesagt, du würdest mit mir zum Tempel gehen?«
Makoto nickte. »Wir brechen auf, sobald es hell ist.«
»Aber du wärst den ganzen Winter hier geblieben, wenn ich nicht hereingestolpert wäre?«
»Ich mache mir nichts vor«, entgegnete er. »Wahrscheinlich wäre ich hier gestorben. Vielleicht hast du mir das Leben gerettet.«
Wir redeten bis spät in die Nacht, zumindest er redete, als würde die Anwesenheit eines anderen Alenschen Wochen des Schweigens ausgleichen. Er erzählte mir einiges über seinen Hintergrund; er war vier Jahre älter als ich und stammte aus einer Kriegerfamilie von niedrigem Rang, die den Otori bis zur Schlacht von Yaegahara gedient hatte und nach der Niederlage gezwungen war, ihre Loyalität auf die Tohan zu übertragen. Man hatte ihn zum Krieger erzogen, doch er war der fünfte Sohn in einer großen Familie, die immer weiter verarmte. Von früh an hatte man seine Liebe zum Lernen, sein Interesse für die Religion gefördert, und als der Abstieg der Familie nicht mehr aufzuhalten war, wurde er nach Terayama geschickt. Er war elf Jahre alt. Sein Bruder, damals dreizehn, hatte ebenfalls Novize werden sollen, war aber nach dem ersten Winter davongelaufen und seither verschollen. Der älteste Bruder war in Yaegahara getötet worden, der Vater starb nicht viel später. Die beiden Schwestern waren mit Tohankriegern verheiratet und Makoto hatte seit Jahren nichts von ihnen gehört. Seine Mutter wohnte noch mit seinen beiden überlebenden Brüdern und deren Familien auf dem Familiengut oder was davon übrig war. Sie betrachteten sich kaum mehr als Angehörige der Kriegerklasse. Er sah seine Mutter ein- oder zweimal im Jahr.
Wir redeten ungezwungen wie alte Freunde und ich erinnerte mich, wie ich mich nach einem solchen Gefährten gesehnt hatte, als ich mit Akio unterwegs war. Makoto war älter und hatte eine viel bessere Erziehung als ich genossen, er besaß einen Ernst und eine Nachdenklichkeit, die im Gegensatz zu meiner unbesonnenen Art standen. Doch wie ich später feststellte, war er auch stark und mutig, immer noch ebenso Krieger wie Mönch und Gelehrter.
Er fuhr fort, mir von den Gräueltaten und Verbrechen zu erzählen, die nach Shigerus Tod durch Yamagata und Terayama fegten.
»Wir waren bewaffnet und auf einen Aufstand vorbereitet. Iida hatte schon seit einiger Zeit mit der Zerstörung unseres Tempels gedroht, er merkte, dass wir mit jedem Jahr reicher und mächtiger wurden. Er wusste, wie stark der Groll darüber war, den Tohan überlassen worden zu sein, und er hoffte, jede Rebellion im Keim zu ersticken. Du hast gesehen, was Lord Shigeru den Menschen bedeutete. Das Gefühl des Verlusts und der Kummer bei seinem Tod waren entsetzlich. Ich hatte noch nie so etwas erlebt. Die Unruhen in der Stadt, die von den Tohan befürchtet worden waren, solange er lebte, brachen bei der Nachricht von seinem Tod mit noch viel größerer Heftigkeit aus. Es gab einen spontanen Aufstand, ehemalige Otorikrieger, mit Stöcken bewaffnete Stadtbewohner, sogar Bauern mit Sensen und Steinen zogen zum Schloss. Wir waren bereit, den Kampf zu unterstützen, als die Nachricht von Iidas Tod und Arais Sieg in Inuyama kam. Die Tohansoldaten zogen sich zurück und wir jagten sie in Richtung Kushimoto.
Unterwegs trafen wir dich, mit Iidas Kopf. Inzwischen erfuhren
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