Der Pfad im Schnee
und Geistern, die klaren Worte der alten Sutren, das alles bewirkte eine erlesene bittersüße Empfindung. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich wünschte, ich könnte das Gefühl beschreiben, wünschte, ich hätte aufmerksamer zugehört, wenn Ichiro versuchte, mir etwas über Poesie beizubringen. Ich sehnte mich danach, den Pinsel in der Hand zu halten: Wenn es mir schon nicht gelang, meine Stimmungen in Worte zu fassen, so konnte ich sie doch vielleicht malen.
Komm zu uns zurück, hatte der alte Priester gesagt. Wenn das alles vorbei ist… Etwas in mir wünschte, ich könnte das tun und den Rest meines Lebens an diesem friedlichen Ort verbringen. Aber ich erinnerte mich daran, wie ich selbst hier Kriegspläne gehört hatte; die Mönche waren jetzt bewaffnet, der Tempel war befestigt. Es war längst nicht vorbei - es hatte gerade erst angefangen.
Der Gesang endete und ich hörte die gedämpften Schritte, als die Mönche in einer Reihe zum Essen gingen; danach würden sie ein paar Stunden schlafen, bis die Glocke sie um Mitternacht weckte. Schritte näherten sich vom Kloster her dem Zimmer, der gleiche Mönch wie zuvor kam an die Tür und schob sie auf. Er verneigte sich und sagte: »Lord Otori, unser Abt wünscht Sie jetzt zu sehen.«
Ich stand auf und folgte ihm. »Wie heißt du?«
»Norio, Herr«, antwortete er und fügte flüsternd hinzu: »Ich bin in Hagi geboren.«
Mehr sagte er nicht, im Tempel galt die Regel, dass niemand unnötig redete. Wir gingen um den Haupthof herum, der schon mit Schnee bedeckt war, am Speisesaal vorbei, wo die Mönche schweigend in Reihen knieten, jeder mit einer gefüllten Schale vor sich, dann an der Haupthalle, die nach Weihrauch und Kerzenwachs duftete, wo die goldene Statue leuchtend in der Dämmerung saß, und erreichten die dritte Seite des Vierecks. Hier lag eine Reihe kleiner Räume, die als Büros und Arbeitszimmer genutzt wurden. Aus dem abgelegensten hörte ich das Klicken der Gebetsperlen, ein geflüstertes Sutra. Wir blieben vor dem ersten Zimmer stehen und Norio rief leise: »Lord Abt, Ihr Besucher ist hier.«
Ich schämte mich, als ich ihn sah, denn es war der alte Priester in denselben abgetragenen Kleidungsstücken. Ich hatte ihn für einen der Alten im Tempel gehalten, nicht für den Leiter. Ich war so in meine eigenen Sorgen versunken gewesen, dass ich noch nicht einmal gewusst hatte, wer er war. Ich fiel auf die Knie und berührte mit der Stirn die Matte. So formlos wie immer kam er auf mich zu, sagte mir, ich solle mich aufsetzen, und umarmte mich. Dann setzte er sich wieder zurück und betrachtete mich, ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Ich lächelte zurück, ich spürte seine echte Freude und reagierte darauf.
»Lord Otori«, sagte er, »ich bin froh, dass Sie unversehrt zu uns zurückgekehrt sind. Ich habe oft an Sie gedacht. Sie haben dunkle Zeiten durchlebt.«
»Sie sind noch nicht vorbei. Aber ich bitte um Ihre Gastfreundschaft über den Winter. Anscheinend werde ich von allen Seiten gejagt und ich brauche einen sicheren Ort, während ich mich vorbereite.«
»Makoto hat mir ein wenig von Ihrer Lage erzählt. Sie sind hier immer willkommen.«
»Ich muss Ihnen sofort von meiner Absicht berichten. Ich will mein Erbe von den Otori beanspruchen und die bestrafen, die für Lord Shigerus Tod verantwortlich sind. Das könnte den Tempel gefährden.«
»Darauf sind wir vorbereitet«, entgegnete er heiter.
»Sie erweisen mir eine große Freundlichkeit, die ich nicht verdiene.«
»Ich glaube, Sie werden feststellen, dass diejenigen von uns, die seit langem mit den Otori verbunden sind, sich in Ihrer Schuld sehen«, antwortete er. »Und natürlich glauben wir an Ihre Zukunft.«
Mehr als ich, dachte ich im Stillen. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Es war undenkbar, dass er mich lobte nach all den Fehlern, die ich begangen hatte. Ich kam mir wie ein Hochstapler vor in dem Otorigewand, aber mit kurz geschnittenem Haar, ohne Geld, ohne Gefolge, ohne Schwert.
»Alle großen Vorhaben beginnen mit einer einzelnen Handlung«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. »Ihre erste Handlung war, hierher zu kommen.«
»Mein Lehrer Ichiro hat mich geschickt. Er wird mich im Frühjahr hier treffen. Er riet mir, Lord Arais Schutz zu suchen. Das hätte ich von Anfang an tun sollen.«
Um die Augen des Abtes bildeten sich Fältchen, als er lächelte. »Nein, der Stamm hätte Sie nicht am Leben gelassen. Sie waren damals viel verletzlicher.
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