Der Pfad im Schnee
jetzt öffnete sie die Augen im vertrauten Licht und Schatten ihres Elternhauses. Oft hatte sie als Geisel bei den Noguchi davon geträumt, zu Hause zu erwachen, und war ein paar Augenblicke später in der Realität ihres Lebens im Schloss hochgeschreckt. Jetzt lag sie still mit geschlossenen Augen da, wartete auf das zweite Erwachen, spürte ein Stechen im unteren Teil ihres Bauchs und fragte sich, warum sie vom Geruch einer Medizin aus Beifußblättern träumte.
»Sie ist zu uns zurückgekehrt!« Die Stimme des Mannes, eines Fremden, erschreckte sie. Auf der Stirn spürte sie eine Hand, von der sie wusste, dass sie Shizuka gehörte; viele Male zuvor hatte sie die feste, kühle Hand dort gefühlt als das Einzige, das sich zwischen ihr Bewusstsein und die Ängste schob, die sie überfielen. Das schien alles zu sein, woran sie sich erinnerte. Etwas war mit ihr geschehen, aber ihr Verstand scheute sich, darüber nachzudenken. Die Bewegung erinnerte sie an einen Sturz. Sie musste von Takeos Pferd Raku gefallen sein, von dem kleinen grauen Hengst, den er ihr geschenkt hatte, ja, sie war gefallen und sie hatte ihr Kind verloren.
Tränen traten ihr in die Augen. Sie wusste, dass sie nicht klar dachte, aber sie wusste auch, dass das Kind fort war. Shizukas Hand zog sich zurück und kam dann wieder mit einem leicht angewärmten Tuch, um ihr das Gesicht abzuwischen.
»Lady!«, sagte Shizuka, »Lady Kaede!«
Kaede versuchte ihre eigene Hand zu bewegen, aber sie schien gelähmt zu sein und auch dort stach sie etwas.
»Versuchen Sie nicht, sich zu rühren«, sagte Shizuka. »Lord Fujiwaras Arzt Dr. Ishida hat Sie behandelt. Jetzt werden Sie gesund. Weinen Sie nicht, Lady!«
»Es ist normal«, hörte sie den Arzt sagen. »Wer dem Tod nahe war, weint immer, wenn er zurückgebracht wird, ob aus Freude oder Gram habe ich nie sagen können.«
Kaede wusste es selbst nicht. Die Tränen flossen, und als sie endlich versiegten, schlief sie ein.
Mehrere Tage lang schlief sie, erwachte, aß ein wenig und schlief wieder. Dann schlief sie weniger, lag mit geschlossenen Augen da und horchte auf die Geräusche im Haus. Sie hörte Hanas Stimme, die wieder selbstbewusst klang, Ais sanften Ton, Shizuka, wie sie sang und mit Hana schimpfte, die sich angewöhnt hatte, ihr wie ein Schatten zu folgen und ihr möglichst gefällig zu sein. Es war ein Haus der Frauen - die Männer blieben fern -, die wussten, dass sie sich dem Rand einer Katastrophe genähert hatten, dass sie noch nicht außer Gefahr waren, aber bis jetzt überlebt hatten. Aus dem Herbst wurde langsam Winter.
Der einzige Mann war der Arzt, der im Gästepavillon wohnte und sie täglich besuchte. Er war klein und flink, mit langfingrigen Händen und leiser Stimme. Kaede lernte ihm zu vertrauen, sie spürte, dass er nicht über sie urteilte. Er hielt sie weder für gut noch für schlecht, er dachte überhaupt nicht in solchen Kategorien. Er wollte nur, dass sie gesund wurde.
Er gebrauchte Methoden, die er auf dem Festland gelernt hatte, verwendete goldene und silberne Nadeln, eine Salbe aus Beifußblättern, die auf der Haut brannte, und Tees aus Weidenrinde. Außer ihm kannte Kaede niemanden, der dorthin gereist war. Manchmal lag sie da und hörte zu, wie er Hana Geschichten über die Tiere erzählte, die er gesehen hatte, große Wale im Meer und Bären und Tiger an Land.
Als sie aufstehen und das Haus verlassen konnte, war es Dr. Ishida, der eine Feier für das verlorene Kind vorschlug. Kaede wurde in einer Sänfte zum Tempel getragen und kniete lange vor dem Schrein für Jizo, dem Beschützer der Wasserkinder, die sterben, bevor sie geboren werden. Sie trauerte um das Kind, dessen Lebensmoment so kurz gewesen war, empfangen und ausgelöscht inmitten von Gewalt. Doch es war ein Kind der Liebe gewesen.
Ich werde dich nie vergessen, versprach sie im Herzen und betete, dass es nächstes Mal einen ungefährlicheren Gang gehen werde. Sie spürte, dass sein Geist jetzt in Sicherheit war, bis er erneut die Lebensreise antrat. Sie sprach wortlos das gleiche Gebet für Shigerus Kind, weil sie erkannte, dass sie außer Shizuka der einzige Mensch war, der von seiner kurzen Existenz wusste.
Wieder flossen die Tränen, doch als sie nach Hause kam, spürte sie tatsächlich, dass ein Gewicht von ihr genommen war.
»Jetzt müssen Sie das Leben wieder aufnehmen«, sagte ihr Dr. Ishida. »Sie sind jung, Sie werden heiraten und andere Kinder haben.«
»Ich glaube, ich bin dazu bestimmt,
Weitere Kostenlose Bücher