Der Pfeil der Rache
etwas erzählt, Bruder, bevor er mich zu sich bat? Ihr habt besorgt dreingesehen.«
»Ich sorge mich um meine Kinder!«, fuhr er mich an. »Aber was wisst Ihr schon von väterlichen Nöten?« Er schlug ärgerlich auf den Brief. »Ich sollte bei meinem Weib und den Kindern sein, nicht hundert Meilen von ihnen entfernt.« Er funkelte mich böse an und sagte: »Ich habe Euch beobachtet auf dieser Reise. Ihr seid ein Weichling, unentwegt auf der Suche nach irgendeiner armen Kreatur, die Ihr retten könnt. Jetzt grabt Ihr in dieser Sache tiefer und tiefer, aber Ihr werdet nichts finden. Lasst diese Beharrlichkeit sein und kehrt heim, rate ich Euch. Sucht Euch lieber eine Witwe, der Ihr nachsteigen könnt.«
Ich wurde steif vor Zorn. »Was meint Ihr damit?«
»Die Spatzen pfeifen es doch von den Dächern, dass Ihr Roger Elliards Witwe nachgestellt und monatelang um Euch gebellt und gebissen habt, nachdem sie aus London fortgezogen war.«
»Ihr seid ein gemeiner Schuft, nichts wisst Ihr!«
Dyrick lachte, ein bitteres Lachen. »Ah, endlich habe ich Euch eine männliche Antwort entlockt! Nehmt meinen Rat, Bruder: Heiratet, gründet eine eigene Familie, um die Ihr Euch sorgen könnt wie eine ängstliche Glucke –«
Ich tat einen Schritt auf ihn zu, um ihm eine Maulschelle zu verpassen, als ich seine Absicht durchschaute. Er hatte mich nicht nur von meinen Fragen abgelenkt; wenn ich ihn tätlich angriff, würde er sich bei Gericht über mich beschweren, und ich säße in der Klemme. Ich senkte die Hand. »Ich werde Euch nicht schlagen, Bruder«, sagte ich ruhig, »Ihr seid es nicht wert. Ich lasse Euch allein. Aber ich glaube, dass Ihr sehr wohl wisst, was Abigail gemeint hat. Euer Mandant hat es Euch anvertraut.«
»Legt den Fall nieder«, sagte Dyrick, und seine Stimme klang unerwartet ruhig. Zu meiner Überraschung wirkte seine Miene fast verstört. »Lasst uns nach Hause reiten.«
»Nein«, antwortete ich, ging hinaus und schloss die Tür.
* * *
Tags darauf war ich früh auf den Beinen. Wieder ein schöner Sommermorgen. Der zehnte Juli, vor zehn Tagen hatten wir London verlassen. Als ich meine Robe anlegte für meinen Besuch bei Priddis, überdachte ich Dyricks Worte vom Vorabend. Obwohl sie gewollt bösartig waren, hatten sie mich dennoch aufgewühlt. Trotzdem war ich mir nach wie vor sicher, dass Hobbey ihm irgendein Geheimnis anvertraut hatte, denn seither wirkte er zutiefst verstört.
Ich speiste gemeinsam mit Barak in der Küche. Ursula war da, doch abgesehen von einem kurzen Nicken ignorierte sie uns. Wir schritten durch den Großen Saal mit seinen prachtvollen Wandteppichen, deren frohe Farben im hellen Licht der Sonne leuchteten. Vor der Szene mit den Jägern, die mit Pfeil und Bogen durch den Wald pirschten, hielt ich inne. Ob wir noch hier waren, wenn am Montag die Jagd stattfand?, fragte ich mich.
»Ihr seid still heute Morgen«, sagte Barak.
»Es ist nichts. Komm mit.«
Draußen standen die Pferde bereit, und ich sah mit Freude, dass man Oddleg für mich geholt hatte. Zwei junge Diener saßen schon im Sattel; sie sollten uns offenbar begleiten. Hobbey und Dyrick standen über einige Papiere gebeugt, wobei Dyricks schwarze Robe in der Sonne schimmerte wie ein Rabenflügel. Ganz in der Nähe unterhielten sich Hugh und David mit Feaveryear. Hugh trug wie Dyrick einen breitkrempigen Hut. Ich trat zu ihnen. David errötete und blickte beiseite. Vermutlich schämte er sich seiner Tat.
»Bereit zum Aufbruch?«, fragte ich Hugh.
»O ja. Master Hobbey schlug vor, dass David und ich hierbleiben sollten, aber ich möchte unbedingt die Flotte sehen. Also hat Master Hobbey uns erlaubt, dass wir den Portsdown Hill entlangreiten, damit wir einen Blick in den Hafen von Portsmouth werfen und die Schiffe sehen können.«
»Kommen sie auch mit?«, fragte ich und wies auf die beiden jungen Diener.
»Herren von Stand reisen in Begleitung, und Fulstowe bleibt hier, um sich um Davids Mutter zu kümmern.« Eine Spur Verachtung schwang in seiner Stimme. Die arme Abigail kümmert dich keinen Deut, dachte ich, und Zorn wallte in mir auf. Ich wandte mich an Feaveryear. »Freut Ihr Euch darauf, Portsmouth zu sehen?«
»Ich frage mich tatsächlich, wie es sein wird«, antwortete er nüchtern.
»Wir sind bereit, Master Shardlake«, rief Hobbey.
»Jawohl«, sagte Dyrick mit beißender Stimme. »Wir sollten Sir Quintin Priddis nicht warten lassen.«
Einer der Diener brachte den Aufsteigeblock und half Hobbey in den
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