Der Pfeil der Rache
er.
Ich näherte mich dem Leichnam. Abigails Augen standen weit offen, ihre letzte Gefühlsregung war offenbar ein jäher Schrecken gewesen. Neben der Leiche lag eine gelbe Waldblume, der einige Blütenblätter fehlten. Sie hat sie unterwegs gepflückt, dachte ich. Ich sah mir den Pfeil an, der obszön aus ihrer weißen Stirn ragte. Die Befiederung bestand aus Gänsefedern. Die jungen Burschen hatten Pfauen- und Schwanenfederpfeile bei sich getragen, fiel mir ein, doch ob auch gewöhnliche Gänsefederpfeile in ihren Köchern steckten, wusste ich nicht mehr. Es war kaum Blut zu sehen, nur ein kleiner roter Kreis um den Schaft des Pfeils.
»Wir müssen es ihnen sagen«, raunte Barak. Jenseits der Bäume waren gedämpft Stimmen zu hören. Ich legte die Hand auf seinen Arm.
»Sehen wir uns ein wenig hier um, ehe es bald von Menschen wimmelt.« Ich wies auf die Bäume. »Der Pfeil kam aus dieser Richtung. Komm, vielleicht finden wir die Stelle.«
Wir versuchten, dem Blickwinkel des Mörders zu folgen. Nach einer Weile blockierte eine Eiche meinen Weg. Ich drehte mich um und blickte geradewegs auf den Leichnam der armen Abigail. Im weichen Waldboden bemerkte ich den schwachen Abdruck einer Schuhsohle.
»Hier hat er gestanden«, sagte ich. »Er ging womöglich wie wir den Pfad entlang und sah, wie wir, jenes leuchtend gelbe Kleid durch die Bäume schimmern. Er schlich hierher, legte einen Pfeil ein und schoss ihn ab.«
»Dann war es also nicht geplant?«
»Nicht, wenn es so passiert ist.«
»Und wenn sie sich mit jemandem hier verabredet hatte und dieser Jemand sie tötete?«
»Auch eine Möglichkeit. Aber vielleicht wollte sie nur ein wenig für sich sein, so wie ich. Es fiel ihr gewiss nicht leicht, bei diesen Frauen zu sitzen, die wahrscheinlich längst Bescheid wussten über David.«
Barak betrachtete den Leichnam. »Armes Geschöpf. Was kann sie schon angerichtet haben? Sie war übellaunig und schroff, aber das sind viele. Warum also musste sie sterben?«
»Ich weiß es nicht. Außer, sie kannte nicht nur Davids Geheimnis, und jemand nutzte die Gelegenheit und brachte sie zum Schweigen.« Ich erinnerte mich an das Gespräch, das ich zwischen Abigail und Hobbey belauscht hatte. »Sie hatte Angst, dass während der Jagd irgendetwas geschehen könnte. Und so war es nun auch.«
* * *
Als wir die Lichtung betraten, waren schon alle versammelt. Hugh, David, Hobbey, Fulstowe und Dyrick sahen inmitten der übrigen Jagdgesellschaft zu, wie Diener in blutverschmierten Kitteln unter Averys Anweisung einer großen Hirschkuh den Bauch aufschlitzten. Fünf weitere lagen in der Nähe auf einem Haufen. Das Aufbrechen der Beute nannte man den Vorgang, erinnerte ich mich.
Die Hunde waren angeleint und wurden von den Männern aus dem Dorf in Schach gehalten. Sie zerrten keuchend und schwanzwedelnd an den Leinen. Avery langte tief in den Leib der Hirschkuh und brachte mit kräftigem Ruck die Eingeweide zum Vorschein. Er schnitt sie mit einem langen Messer in Stücke und warf sie den Hunden vor; ihre Belohnung.
Ich sprach zunächst mit Fulstowe, nachdem ich ihn beiseitegenommen hatte. Er war heftig erschrocken und wich mit weit aufgerissenen Augen einen Schritt zurück. »Was?«, rief er mit einer Stimme, die aller Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Dann fasste er sich wieder und blickte angespannt um sich.
»Besser, Ihr erzählt es nicht gleich jedermann«, sagte ich leise.
»Ich muss es Master Hobbey und den Jungen sagen.«
Ich sah, wie Fulstowe an Hobbey herantrat, dann an Hugh und schließlich an David und mit jedem leise sprach. Die Reaktionen der drei waren gänzlich unterschiedlich. Hobbey hatte nach dem Sturz die Fassung wiedererlangt und dem Ausweiden des Wilds mit nachsichtigem Lächeln beigewohnt. Als Fulstowe ihm die Nachricht übermittelte, stand er einen Moment reglos da. Dann schwankte er und wäre beinahe umgefallen, hätte ein Diener ihn nicht gepackt. So stand er, von dem Mann gestützt, und starrte auf Fulstowe, der sich an Hugh und David wandte. Hugh runzelte ungläubig die Stirn, doch David schrie auf: »Mutter! Meine Mutter!« Er vollführte eine seltsame Geste, als greife er, Halt suchend, in die Luft, doch als Fulstowe ihm die Hand reichte, schlug er sie fort und begann jämmerlich zu weinen.
Ein jeder blickte jetzt nach der Familie, in banger Furcht. Die Frauen erhoben sich von den Kissen. Fulstowe wandte sich an die Gesellschaft:
»Es hat einen –« er stockte – »einen Zwischenfall gegeben.
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