Der Pfeil der Rache
Hampshire unabkömmlich. Und hier gibt es nichts, was er bezeugen könnte, keinen Vorwurf, der präzise genug wäre, um eine Antwort zu rechtfertigen.«
»Wenn Kinder betroffen sind, sollte man jeder Beschuldigung nachgehen.« Hobbey ist also nicht in London, dachte ich. Er konnte den Überfall auf mich demnach nicht veranlasst haben.
»Kinder?«, protestierte Dyrick. »Hugh Curteys ist achtzehn Jahre alt. Ein kräftiger, gesunder Bursche; ich sah ihn erst vor kurzem, als ich meinem Mandanten einen Besuch abstattete. Und er ist in guten Händen, möchte ich hinzufügen.«
»Trotzdem ist er noch unmündig. Und unter der Kontrolle und Aufsicht von –« Ein krampfartiger Schmerz fuhr mir in die Kehle, und ich musste innehalten. Ich keuchte, umfasste mit beiden Händen meinen Hals.
»Siehst du, Sam«, sagte Dyrick zu Feaveryear. »Die Worte bleiben Bruder Shardlake im Halse stecken.«
Ich blickte Dyrick wütend an, verwünschte meine Schwäche. Dann sah ich die Wut in seinen Augen, ebenso wild wie die meine. Keine Gaukelei diesmal.
»Wie ich sehe, habt Ihr wenig zu bieten, Sergeant Shardlake«, fuhr Dyrick fort. »Ich danke Euch für diese Zeugenaussagen, obschon sie nicht mehr aktuell sind, was ich am Montag zur Sprache bringen werde –«
»Master Curteys’ Nachlass besteht aus einem umfangreichen Waldgebiet.«
»Es wird aufs Beste verwaltet. Ihr habt die Dokumente gesehen.«
»Aber keine Rechnungen.«
»Sie werden vom Lehnsrichter in Hampshire verwahrt. Ihr mögt mit dem Vormundschaftsgericht nicht vertraut sein, Bruder, aber so sind die Gepflogenheiten.«
»Sagt mir doch, Bruder Dyrick, soll Hugh Curteys demnächst heiraten?«
»Nicht doch.« Er neigte den Kopf zur Seite und grinste. »Es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge, Bruder Shardlake.«
»Ich muss den Vorwürfen nachgehen, das Gericht wird mir recht geben.« Meine Stimme klang kratzig und schrill.
Dyrick stand auf. »Ich hoffe, Euer Hals hat sich bis zum Montag erholt.«
»Gewiss, Bruder.«
Ich erhob mich und wandte mich zum Gehen. Dyricks Miene war kalt, wie versteinert. Ich warf einen Blick auf Feaveryear. Zum ersten Male sah ich ihn lächeln, nicht in meine Richtung, sondern in jene seines Brotherrn. Ein Lächeln der Verzückung.
kapitel neun
A m darauffolgenden Morgen überquerte ich erneut den Innenhof von Hampton Court. Es war ein Sonntag, heiter und kühl, der Vortag der Anhörung. Der Hof war ruhig, nur von einigen Beamten belebt; heute drückten sich keine Höflinge herum.
Als ich von meinem Gespräch mit Dyrick zurückkehrte, fand ich ein Schreiben von Warner zu Hause vor. Coldiron stand im Flur, den dicken weißen Brief in Händen, und bewunderte die schön geschriebene Adresse und das Siegel der Königin. Er hatte mir das Schreiben mit ungewohntem Respekt überreicht, eine quälende Neugier im Blick. Ich aber entließ ihn schroff und erbrach das Siegel; Warner bat mich, tags darauf erneut die Königin aufzusuchen.
Warner hatte mich in seine Amtsstube bestellt, und so erstieg ich erneut die Wendeltreppe. Ich trug wieder meine Bundhaube, um die Blutergüsse am Hals zu verstecken. Warners Stube war mit frischen Binsen ausgelegt, und ihr süßer Duft besiegte den Geruch nach Staub und Papier. »Ah, Bruder Shardlake. Es ist wieder kalt geworden. Was für ein Sommer.«
»Tja, ein Großteil des Weizens ist verhagelt, wie ich auf dem Weg hierher feststellen konnte.«
»Im Norden ist es noch schlimmer. Und über den Ärmelkanal wehen heftige Stürme. Gott sei Dank sind die
Great Harry
und die
Mary Rose
heil im Hafen von Portsmouth eingelaufen.« Er schaute mich eindringlich an. »Ich habe der Königin Eure Nachricht gezeigt. Sie war ebenso besorgt wie ich. Geht es Euch schon besser?«
»O ja, vielen Dank.«
»Die Königin wünscht Euch jetzt zu sehen.« Warner öffnete die Tür zu einem Nebenraum und rief einen jungen Schreiber herein. »Sergeant Shardlake ist hier. Sagt es der Königin. Sie müsste soeben aus dem Gottesdienst gekommen sein.«
Der Schreiber verneigte sich und eilte aus dem Zimmer. Seine Schritte hallten die Treppe hinunter, dann sah ich ihn über den Hof laufen. Ich beneidete ihn um seine Schnelligkeit und Anmut. Warner bot mir einen Stuhl. Er strich sich über den Bart. »Wir leben in gesetzlosen Zeiten. Erzählt mir, was Euch widerfahren ist.«
Ich erzählte ihm die Geschichte und schloss mit dem Besuch bei Dyrick. »Er wird erbittert kämpfen für seinen Mandanten«, sagte ich. »Und er verfügt, ehrlich
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