Der Pfeil der Rache
nicht.«
»Ich nehme es mit beiden auf.«
»Wir haben mit Vikar Broughton gesprochen. Er hat uns sehr geholfen und sagt am Montag aus. Doch kann er nur bestätigen, dass er und Michael Hobbeys Vormundschaft verhindern wollten. Entsinnt Ihr Euch noch eines anderen Umstands, den ich nicht erwähnt habe? Bezüglich der Kinder vielleicht?«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Nur an Kleinigkeiten.«
»Sie wurden von den weiblichen Mitgliedern des Haushalts erzogen, bis sie alt genug waren für einen Hauslehrer, nehme ich an.«
»Ja. Obwohl John und Ruth Curteys länger warteten als üblich, bis sie einen Hauslehrer einstellten. Michael meinte, sie hätten ihre Kinder so innig geliebt, dass sie sie mit niemandem hätten teilen wollen.«
»Habt Ihr Hugh und Emma kennengelernt?«
»O ja. Michael brachte sie einmal zu mir, außerdem besuchte ich ihn recht oft im Hause Curteys und sah sie viele Male. Master und Mistress Curteys begegneten mir überaus zuvorkommend, als wäre ich eine Dame von Stand. Ich weiß noch, wie Hugh und Emma in Michaels Zimmer kamen, um mich zu begrüßen. Sie waren recht ausgelassen, weil Hugh sich irgendwo Nissen eingefangen hatte und man ihm den Kopf hatte kahlscheren lassen. Seine Schwester lachte über ihn, behauptete, er sehe aus wie ein altes Männlein. Ich sagte Emma, sie dürfe sich nicht lustig machen über ihren Bruder, aber Hugh lachte nur und sagte, wenn er erst ein Mann wäre, würde er seine unverschämte Schwester kräftig verhauen. Dann jagte er sie durch die Stube, wobei sie alle beide kreischten und lachten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sehe sie noch vor mir: Das Mädchen rannte, dass die Haare flogen, und Michael und ich lachten mit ihnen.«
»Mistress Calfhill«, fragte ich leise. »Warum, meint Ihr, ist Michael kurz vor seinem Tod in eine eigene Unterkunft gezogen?«
»Nun ja, es lag wohl an der Tatsache –« Plötzlich zitterten ihre Lippen –, »dass ich so viel Aufhebens um ihn mache.« Sie senkte den Blick und erklärte: »Michael war alles, was ich hatte. Sein Vater starb, als er drei Jahre alt war, und ich musste ihn allein großziehen. Im Haus von Lord und Lady Latimer in Kingston. Lady Latimer schenkte meinem Sohn viel Beachtung, ermutigte ihn, und er lernte mit ebensolcher Freude wie sie. Auch sie weiß, was für ein gutherziger Junge er war. Vermutlich zu gutherzig.«
»Na gut«, sagte ich. »Vielleicht können wir am Montag vor Gericht dafür sorgen, dass seine Freundlichkeit belohnt wird.« Ich tauschte einen vielsagenden Blick mit Barak. Wir wussten beide, dass der Fall nur der Königin zuliebe, nicht etwa der zwingenden Beweise wegen, weiterverfolgt werden würde.
* * *
Kurze Zeit später ging ich, den Ranzen über der Schulter, erneut die Middle Temple Lane entlang. Ich bog nach links, auf die Temple Church zu. Dyrick hatte seine Kanzlei gegenüber, in einem alten Gemäuer aus schwerem Backstein. Ein Schreiber sagte mir, Dyricks Gemächer befänden sich im dritten Stock, und so erstieg ich mühsam eine breite Treppe aus schwerem Eichenholz. Auf halbem Wege musste ich kurz verschnaufen, da mein wunder Hals schmerzhaft pochte. Eine Hand am Geländer, stieg ich weiter. Im dritten Stock bemerkte ich an einer Tür ein Schild, worauf in eleganten Lettern Dyricks Name stand. Ich klopfte und trat ein.
Alle Kanzleien ähneln einander. Schreibtische, Regale, Papiere, Schreiber. In Dyricks Stube stapelten sich Bündel von Akten auf den Tischen, ein Hinweis auf eine geschäftige Praxis. Ich sah zwei Schreiberpulte, aber nur eines war belegt; ein schmächtiger junger Bursche in der kurzen Robe eines Kanzleigehilfen saß davor. Er hatte ein schmales Gesicht und einen langen Hals, in dem ein großer Adamsapfel auf und ab hüpfte, dazu kleine blaue Augen unter einer wirren Mähne. Er beäugte mich mit unverschämter Missbilligung.
»Ich komme zu Bruder Dyrick«, sagte ich kurz angebunden. »Sergeant Shardlake.«
Da flog die Tür zum Nebenzimmer auf, Vincent Dyrick trat heraus und hastete mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Er war ein großer, hagerer Mensch, der ungefähr mein Alter hatte und Kraft und Energie versprühte. Er war blass und trug das kupferfarbene Haar lang, war zwar kein schöner Mann, aber zweifellos augenfällig. Er lächelte, zeigte dabei ein noch vollständiges Gebiss, doch der Blick aus seinen grünbraunen Augen war hart und wachsam.
»Guten Morgen, Sergeant Shardlake. Wir sind uns schon begegnet, vor Gericht. Ich habe zweimal gegen
Weitere Kostenlose Bücher