Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Pfeil der Rache

Der Pfeil der Rache

Titel: Der Pfeil der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.J. Sansom
Vom Netzwerk:
schonen. Habt Ihr das gewusst? Lord Hertford wollte nicht gehorchen, aber der König bestand darauf. Wir landeten unweit der Ortschaft Leith und nahmen sie ein, brannten jedes Haus bis auf die Grundfesten nieder und scheuchten Frauen und Kinder in die Felder. Meine Kompanie wurde dort stationiert, also sah ich nichts mehr vom Kriegsgeschehen, doch die restliche Armee zog nach Edinburgh weiter und legte auch dort alles in Schutt und Asche. Die Männer kehrten mit reicher Beute zurück, hatten alles aus den Häusern geschafft, was von Wert und nicht niet- und nagelfest war. Die Schiffe waren bald so überladen, dass man befürchten musste, sie könnten sinken. Doch die Beute gehört zum Krieg, ohne Hoffnung auf Gewinn dringt kein Soldat in Feindesland vor.«
    »Und jetzt drohen die Schotten damit, bei uns einzufallen, gemeinsam mit den Franzosen.«
    »Ja. König Francis will England endgültig am Boden sehen.« Leacon fuhr sich mit der Hand durch die Locken. »Wir segelten von Schottland aus stracks nach Frankreich. Im Juli vorigen Jahres trug ich die Verantwortung für eine halbe Kompanie Bogenschützen. Jetzt sind sie alle tot.«
    »Allesamt?«
    »Bis auf den letzten Mann. Wir landeten in Calais und zogen von dort nach Boulogne. Die Gegend dazwischen war bereits von marodierenden Soldaten verwüstet worden. Wie in Schottland waren auch hier die Felder zertrampelt und die Dörfer niedergebrannt worden. Ich weiß noch, wie die Einwohner am Wegesrand standen, alte Leute, Weiber und Kinder in Lumpen, all ihr Hab und Gut geplündert oder zerstört. Im vorigen Jahr gab es in Frankreich nichts als Regen und kalte Winde. Ich weiß noch, wie blass ihre Gesichter waren.« Er senkte die Stimme, flüsterte fast: »Da war eine Frau, die mit einem Arm ein Kind an die magere Brust gedrückt hielt, den anderen streckte sie uns Almosen heischend entgegen. Im Vorübergehen sah ich, dass das Kind tot war, die offenen Augen waren starr und glasig. Die Mutter hatte es noch nicht bemerkt.« Leacon wandte mir den verstörten Blick zu. »Wir durften nicht verharren. Ich sah, wie das Grauen ringsum den Männern zu schaffen machte, dennoch musste ich sie anfeuern, weiterzumarschieren. Es musste sein, es musste sein.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Und die Franzosen werden es uns gleichtun, aus Rache, wenn sie im Land einfallen. Ihre Kommandanten werden zur Vernichtung aufrufen, dann ist es an ihnen, sich die Beute zu holen.«
    »Und alles nur, weil der König nach Ruhm giert«, bemerkte ich bitter.
    Ekel zeigte sich in Leacons Miene. »Wir marschierten unmittelbar an Heinrich vorbei, als wir den Ortsrand von Boulogne erreichten. Er hielt sich im Lager auf, hatte hoch auf einem Hügel prächtige Zelte errichten lassen. Ich sah seine mächtige Gestalt: Von Kopf bis Fuß in eine Ritterrüstung gehüllt, saß er auf dem größten Ross, das ich jemals gesehen hatte, und verfolgte das Schlachtengeschehen. Freilich außerhalb der Reichweite der Kanonen, mit welchen die Franzosen von der Stadt aus unsere Männer beschossen.« Leacon schluckte schwer, ehe er in der Erzählung fortfuhr. »Dann marschierte unsere Kompanie den Hügel hinauf, unter fortgesetztem feindlichem Beschuss. Boulogne liegt auf einem Hügel, müsst Ihr wissen. Wir konnten nichts weiter tun, als hinter Erdwällen in Deckung zu gehen und mit unserer Kanone die Stadt zu beschießen, Zoll um Zoll vorzurücken. Und schon bald lag Boulogne in Schutt und Asche.« Er sah mich an und sagte: »Ihr wisst vermutlich nicht, wie es ist, einen Menschen zu töten.«
    Ich zögerte. »Auch ich habe einmal jemanden getötet. Ich musste es tun, sonst hätte er mich umgebracht. Ich habe ihn ertränkt, seinen Kopf in das Wasser eines schlammigen Teiches gedrückt. Ich höre noch immer das Gurgeln, das er von sich gab. Später wäre ich um ein Haar selbst ertrunken, in einem Abflusskanal. Seitdem verfolgt mich eine entsetzliche Angst vor dem Ertrinken, obwohl ich gleichzeitig das Gefühl habe, dass es eigentlich nur gerecht wäre.«
    »Es gibt keine Gerechtigkeit«, sagte Leacon leise, »keinen Sinn. Das ist es ja, wovor ich mich fürchte. Ich bitte Gott, mir die Erinnerungen zu nehmen, aber er weigert sich.« Er blickte zu der üppig vergoldeten Statue der Jungfrau Maria empor, die mit ruhiger, in sich gekehrter, unendlich ferner Miene auf ihrem Sockel stand, und nahm seine Geschichte wieder auf.
    »Als wir den Teil von Boulogne, der uns am nächsten war, fast dem Erdboden gleichgemacht hatten,

Weitere Kostenlose Bücher