Der Pfeil der Rache
erreichte uns der Befehl, noch weiter vorzurücken. Der König war indes nach England zurückgekehrt; es war September, matschiger und schlammiger denn je. Wir kämpften uns zu Hunderten durch den Dreck den Hügel hinauf, während die Franzosen unentwegt ihre Kanonen gegen uns abfeuerten. Zudem schossen ihre Bogenschützen und Arkebusiere zwischen den Trümmern hervor. Je näher wir der Stadt rückten, desto mehr Männer mussten ihr Leben lassen. Meine Soldaten töteten etliche französische Kanoniere und Bogenschützen. Zugleich waren wir selbst dem Feind ausgeliefert, und viele meiner Männer wurden von Kanonenkugeln zerfetzt.« Er lachte jäh auf, ein wilder, schauriger Laut, der von den Mauern der dunklen Kirche widerhallte. »Zerfetzt«, wiederholte Leacon. »Ein kleines Wort für die schreckliche Bedeutung, die es hat. Der gesamte schlammige Abhang war mit Händen und Beinen übersät, große Klumpen Fleisches in Uniformfetzen, Lachen aus blutigem Schleim zwischen Dreck und Trümmern. Der abgetrennte Kopf eines Freundes mitsamt dem Helm in einer Pfütze.« Er senkte den Kopf, gab ein heftiges Stöhnen von sich und blickte wieder auf.
»Etliche unserer Männer überlebten und kletterten über die Trümmer in die Stadt. Dann folgte der Nahkampf, jetzt kamen Schwerter und Spieße zum Einsatz, es war ein gewaltiges Hacken und Stechen, und überall war Blut. Die Franzosen – sie sind tapfer und unseren Soldaten ebenbürtig – verschanzten sich im oberen Stadtteil und hielten eine weitere Woche aus. Ich wurde an der Seite leicht verwundet, verlor die Besinnung und erwachte zitternd in einem löchrigen Zelt, wo ich versuchte, die Ratten von meiner Wunde fernzuhalten.« Er stieß ein raues Lachen aus. »Sie sagten, ich sei ein tapferer Soldat gewesen, und beförderten mich zum Hauptmann.«
»Tapfer in der Tat. Eine entsetzlichere Lage wie die Eure vermag ich mir kaum vorzustellen.«
»Es sind nicht die Kämpfe in der Stadt, an die ich die lebhafteste Erinnerung habe«, sagte Leacon. »Obschon ich damals mehrere Franzosen tötete und mich selbst dem Tode nahe sah. Es ist der Hügel davor, der wie das Innere eines Schlachthauses anmutete. Die unzähligen Toten. Immer wieder kehre ich in meinen Träumen dorthin zurück. Ich kämpfe mich durch jene Landschaft, suche nach den Gliedmaßen meiner Männer, will sie zuordnen, um sie wieder zusammenzuflicken.« Er holte tief Luft. »Wenn wir gegen die französischen Schiffe kämpfen, sie entern, werden wir Nahkämpfe ausfechten müssen. Ich habe Snodin schon am zweiten Tag angewiesen, die Männer aufzuklären, sie auf das, was ihnen blüht, vorzubereiten. Ich weiß, dass auch er in Boulogne war. Ich brächte es nicht über mich.«
Weil mir die Worte fehlten, berührte ich nur seinen Arm.
»Ich bin ein feiner Heerführer, nicht wahr?« Er lachte bitter. »Wenn es in mir drin so finster aussieht?«
»Ihr macht Eure Sache vortrefflich. Die Männer achten Euch.«
»Das würden sie nicht, wenn sie wüssten, wie ich wirklich bin. Ich kann mich beherrschen, meistens zumindest. Doch immer wieder muss ich daran denken, in welche Lage ich diese jungen Menschen bringe. Es gibt zwar den einen oder anderen, so wie Sulyard, der geradezu darauf erpicht ist, endlich zu kämpfen, doch auch sie haben keine Ahnung, was auf sie zukommt.«
»George, wenn Ihr es nicht wärt, der ihnen Befehle erteilt, wäre es ein anderer, irgendein rauer Bursche, der sich gewiss nicht um passendes Schuhwerk für seine Männer scherte.«
»Ich hasse das Getrommel.« Jetzt schwang Verzweiflung in Leacons Stimme. »Als wir vor Boulogne den Hügel hinaufmarschierten, wurden wir stets von Trommlern angeführt, die mit aller Kraft auf ihre Instrumente einhämmerten, um gegen die Kanonen anzukommen. Ich hasse diesen Lärm, höre ihn stets in meinen Träumen.« Er sah mich an. »Wenn ich doch nur nach Hause zurückkehren könnte, auf unseren Bauernhof. Aber das kann ich nicht, denn ich habe ja einen Eid geleistet. Ihr solltet Gott danken, Master Shardlake, dass Ihr kein Soldat seid.«
kapitel fünfzehn
I n dieser Nacht schlief ich tief und fest. Als der Wirt mich um fünf Uhr früh weckte, erinnerte ich mich vage an einen Traum, der Ellen betraf und mich heftig verstörte.
Wir vier warteten zu Pferde vor der Herberge, bis die Kompanie durch den Ort marschierte. Dyrick hatte wieder eine seiner Launen, vielleicht weil ich ihn letzte Nacht gemieden hatte. Sir Franklin ritt mit hochmütigem Blick an der Spitze,
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