Der Piratenfuerst
um zu wissen, was ihn das kostete.
Potter kam eilig aufs Achterdeck und grüßte. »Sir?«
»Traust du es dir zu, mit mir in den Großmast aufzuentern?«
Potter blickte ihn verständnislos an. »Ja, Sir, wenn Sie meinen ...«
»Ostnordost liegt an, Sir«, meldete Herrick. Sein Blick wanderte von Bolitho zur Großrahe, die fast mitschiffs über dem Deck stand und unter dem Winddruck auf das mächtige Segel vibrierte.
Bolitho schnallte seinen Degen ab und reichte ihn Allday.
»Vielleicht brauche ich heute deine Augen, Potter.«
Im Bewußtsein, daß jedermann an Deck ihm zusah, schwang er sich in die Luvwanten und begann mit so festen Griffen aufzuentern, daß der Schmerz in seinen Händen stärker war als sein Schwindelgefühl. Immer weiter hinauf, immer mit dem Blick auf die Püttingswanten, die den mächtigen Großmast stützten, von dem aus zwei Seesoldaten neugierig, aber mit unbewegten Gesichtern seinen Aufstieg beobachteten.
Er biß die Zähne zusammen und zwang sich, nicht nach unten zu sehen. Seine Höhenangst betrachtete er als eine besondere Gemeinheit des Schicksals. Mit zwölf Jahren war er zur See gegangen und hatte Jahr um Jahr etwas dazugelernt; aus seiner kindlichen Begeisterung für die Marine war echtes Verständnis geworden, das man schon Liebe nennen konnte. Er war mit der Seekrankheit fertiggeworden, hatte gelernt, Einsamkeit und Kummer vor seinen Kameraden zu verbergen – zum Beispiel damals, als seine Mutter starb, während er auf hoher See war. Auch sein Vater war begraben worden, als er im Karibischen Meer gegen Franzosen und Amerikaner kämpfte. In mancher Seeschlacht hatte er furchtbare Verwundungen und qualvolles Sterben gesehen; sein eigener Körper trug Narben genug zum Beweis dafür, daß Überleben und Tod nur um Haaresbreite auseinanderlagen. Warum in aller Welt war er mit dieser Höhenangst geschlagen? Die Webeleinen schnitten in seine Fußsohlen, als er sich um die Püttingswanten schwang und nur an Fingern und Zehen hing.
Bewundernd sagte der eine Marineinfanterist: »Bei Gott, Sir, Sie haben aber schnell aufgeentert!«
Mit schmerzhaft keuchender Brust stand Bolitho neben ihm.
Mißtrauisch musterte er den Seesoldaten, ob sich wohl heimlicher Spott hinter seinem Lob verbarg; es war der Scharfschütze, der vor zwei Tagen den vor Anker liegenden Schoner entdeckt hatte.
So nickte er dem Mann zu und erlaubte sich nun doch einen Blick auf das Deck unter ihm. Zwergenhaft verkleinert bewegten sich Gestalten auf dem Achterdeck, und vorn sah er den Lotgasten im Wasserstag hängen und das schwere Blei geschickt weit über den Bug hinausschleudern.
Seine Spannung wich; er wartete, bis auch Potter oben war und neben ihm stand. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, sich noch weiter hinaufzuwagen, über die nächsten vibrierenden Wanten bis zum Eselshaupt. Aber er ließ es sein. Abgesehen davon, daß er sich selbst und denen, die ihm zusahen, seine Kletterkunst bewies, hätte es wenig Sinn gehabt. Wenn Herrick ihn plötzlich an Deck brauchte, würde er ziemlich dumm aussehen, wenn er übereilt abenterte. Außerdem war Potter jetzt schon ganz erschöpft.
Er nahm das Fernrohr zur Hand, das an seiner Schulter hing, und richtete es auf die Passage zwischen den Inseln. In der Zeit, die er gebraucht hatte, um aufzuentern und oben wieder zu Atem zu kommen, war die Undine mehr als eine Kabellänge näher herangekreuzt, und er konnte jetzt hinter dem steil abfallenden Felsbuckel in der Mitte, der die grimmige Festung trug, die nächste Insel sehen, die vorher verdeckt gewesen war.
»Auf der Ostseite bin ich nie gewesen, Sir«, sagte Potter.
»Aber ich habe gehört, daß es dort eine gute Durchfahrt gibt.« Er schauerte. »In den Sandbänken dort haben sie bei Ebbe die Leichen vergraben. Was noch von ihnen übrig war.«
Bolitho wurde auf einmal starr vor Konzentration und vergaß für den Augenblick das tief unter ihm liegende Deck. Denn er sah den dunkleren Schattenriß der Masten und Rahen eines Großseglers, fast verborgen in der Biegung des inneren Fahrwassers: eine Fregatte!
Potter bemerkte, was Bolitho entdeckt hatte, und fuhr trübe fort: »Der beste Ankerplatz, Sir. Die Geschütze der Festung können zwei Passagen gleichzeitig bestreichen und jedes Fahrzeug schützen, das dort liegt.«
Etwas Helles flatterte vor dem vordersten Eiland und breitete sich dann aus: auf einem kleinen Boot wurden Segel gesetzt. Bolitho warf einen raschen Blick auf den Vormast, wo Herrick eine
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