Der Piratenfuerst
Schlimmeres?
»Anscheinend inspizieren sie die inneren Verteidigungsanlagen«, erwiderte er. »Kein Wunder, daß die Dons diesen Posten loswerden wollen.« Er schauderte. »Von hier aus hat man den Eindruck, daß der verdammte Dschungel die Menschen wieder ins Meer drängen wi ll.«
Achselzuckend deutete Soames mit seinem angebissenen Zwieback zum Geschützdeck. »Soll ich die Geschützbedienungen wegtreten lassen? Sieht nicht so aus, als ob uns die da drüben noch Grund zum Eingreifen geben werden.«
»Nein. Es sind ja nur fünf Geschütze bemannt. Lassen Sie die Bedienungen ablösen, und schicken Sie sie unter Deck zum Ausruhen.« Herrick war froh, als Soames ging. Er wollte sich konzentrieren, wollte sich über Entscheidungen klarwerden, wenn er plötzlich handeln mußte, ohne daß Bolitho hinter ihm stand. Beim letzten Mal war es anders gewesen. Da war eine wilde Verwegenheit über ihn gekommen, noch verstärkt durch die Notwendigkeit, Bolitho auf dem schnellsten Wege zu Hilfe zu eilen.
Aber hier gab es keine schreienden Wilden, keine heranflitzenden Kanus, die er mit ein paar Ladungen Hackblei zerschmettern konnte. Nur Schweigen. Deprimierende, unbewegte Stille.
Da rief Midshipman Penn mit seiner schrillen Knabenstimme: »Eins der Boote wird zu Wasser gebracht, Sir!«
Herrick spürte sein Herz klopfen, als der Mann dort drüben am Strand die grüngestrichene Gig der Undine ins flache Wasser stieß. Dann kam Bolitho – seine schlanke Gestalt war unverkennbar – zum Strand herunter, blieb einen Moment stehen, um Davy etwas zu sagen, und schwang dann die Beine über das Dollbord.
Endlich. Bald würde er wissen, was los war. Nur vier Stunden hatte es gedauert, aber sie waren ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen.
»Klar zum Seitepfeifen!«
Als Bolitho durch die Pforte an Bord kam, fiel Herrick auf, wie besorgt und nachdenklich er dreinsah. Sein Rock war voller Sand und Staub, das Gesicht schweißnaß. Blicklos starrte er auf das strammstehende Empfangskommando.
»Schiffsarzt mit Sanitätsgasten an Land!« befahl Bolitho.
»Soll sich bei Mr. Davy melden. Wenn die anderen Boote kommen, schicken Sie Pulver, Blei und frisches Obst hinüber!« Er spähte nach der vor Anker liegenden Brigg und dem Boot aus, das sich wieder in rascher Fahrt dem Land näherte. »Ich habe die Rosalind aufgefordert, nach besten Kräften zu helfen.« Er warf einen Blick auf Herricks rundes Gesicht und lächelte zum erstenmal. »Beruhigen Sie sich, Thomas – es ist noch nicht das Ende. Nur beinahe. Kommen Sie in meine Kajüte, wenn Sie die Befehle weitergegeben haben. Allday hat eine Liste von alldem, was gebraucht wird.«
Als Herrick schließlich zu Bolitho in die Kapitänskajüte kam, fand er ihn mit entblößtem Oberkörper vor einem großen Krug Zitronenlimonade.
»Setzen Sie sich, Thomas.« Herrick nahm Platz. Er sah, daß Bolitho sich wieder gefaßt hatte. Aber da war noch irgend etwas; seine Gedanken liefen in einer anderen Richtung.
»Bei Kriegsende lag hier eine Garnison von rund dreihundert Mann.« Es war, als zeichne Bolitho ein Bild nach, das jemand für ihn gemalt hatte. »Der Kommandant, bewährter Ratgeber des Königs von Spanien, war Oberst Don Jose Pastor, ein bekannt tüchtiger Soldat und bewandert in der Errichtung derartiger Stützpunkte. Er verschaffte sich einiges Vertrauen bei den Eingeborenen und konnte durch Tauschgeschäfte und andere Überredungsmittel, nach spanischem Brauch auch durch Gewaltanwendung, eine starke Verteidigungslinie aufbauen und außerdem ein ziemlich großes Stück Urwald in unmittelbarer Nähe roden. Es gibt sogar eine Art Straße, die jetzt allerdings überwuchert ist. Eine Wildnis.«
»Fieber?« riet Herrick.
»Das natürlich auch, aber nicht schlimmer, als in einer solchen Gegend zu erwarten.« Er sah Herrick ein paar Sekunden aufmerksam ins Gesicht; seine Augen waren sehr grau in dem reflektierten Licht. »Nein, der Stützpunkt wurde über ein Jahr lang fast ununterbrochen angegriffen. Zuerst dachten sie, es handle sich um irgendwelche räuberischen Stämme, Dajakpiraten vielleicht, denen der wachsende spanische Einfluß in ihrem Gebiet nicht paßte. Oberst Pastor hatte nicht weit vom eigentlichen Stützpunkt eine katholische Mission eingerichtet. Man fand die Mönche fürchterlich verstümmelt und ohne Köpfe.« Er beachtete Herricks entsetzte Miene nicht. »Dann gab es Todesfälle durch Vergiftung der Zisternen. Die Garnison mußte mit dem kleinen Bach auskommen, der innerhalb
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