Der Planet des Todes
durch bloße Leidenschaft zu nehmen. Mein Vater beobachtete mich ruhig und schweigend wie einen seiner Himmelskörper. Einmal eilte ich mit einer Idee zu ihm, die mir ganz außergewöhnlich erschien. Er hörte mir zu und äußerte dann seine Meinung, sachlich und erschöpfend, wie auf einem Seminar. Meine Idee war nicht neu, ein französischer Astronom hatte sie schon zwanzig Jahre vor mir gehabt.
,Du baust auf Sand‘, warnte mich der Vater. ,Die Wissenschaft besteht aus zwei grundlegenden Dingen: erstens aus Messungen und Beobachtungen, aus dem geduldigen, rastlosen Sammeln von unzähligen Tatsachen, die aufgezeichnet und ausgewertet werden müssen. Auf diese Weise wird in einem riesigen Katalog versucht, die unendlich vielfältigen Formen der Materie zu erfassen. Zweitens besteht die Wissenschaft – aus Erleuchtung, die manchmal in einer einzigen Sekunde dem Forscher das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis der Erscheinungen klarwerden läßt. Diese Erleuchtung kommt sehr selten und ist die Gabe einiger weniger. So manches Wissenschaftlerdasein geht nach vielen Jahren undankbarer und mühseliger Sammel- und Beobachtungstätigkeit zu Ende, ohne daß es jemals von dem Blitz einer großen Erkenntnis erhellt wurde. In den Namen jener, die durch umwälzende Entdeckungen unsterblich wurden, sind die Namen Tausender unbekannter Forscher vereinigt. Ihr Ameisenfleiß ermöglichte es den Glücklicheren, in einem Augenblick der Erleuchtung eines der zahllosen Rätsel, die uns umgeben, zu lösen. Und du willst allein und sofort etwas so Großes vollbringen? Das schaffst du nicht …‘
Wir schritten durch den Garten unseres Landhauses in der Nähe von Moskau. Inmitten von Blumenbeeten erhebt sich dort ein Obelisk aus Granit, den mein Großvater, der auch Astronom gewesen ist, zu Ehren Einsteins errichtet hat. kein Sinnspruch, keine Worte sind darin eingemeißelt, nur Buchstaben – die Formel vom Gleichgewicht der Energie und der Materie:
E = m*c 2 .
Wir gingen auf dem schmalen Pfad entlang zum Obelisk. Als wir davorstanden, sagte mein Vater:, Diese Formel ist für das ganze Weltall gültig. Kannst du das verstehen? Nein. Weder du noch ich, noch sonst jemand auf der Welt versteht es. So, wie sich in einer Handvoll Wasser, die du nachts aus einer Quelle schöpfst, die Unendlichkeit des Himmels über uns spiegelt, sind in dieser Formel Umwandlungen von Masse zu Energie eingeschlossen, die bereits vor Jahrtrillionen, als weder die Sonne noch ihre Planeten bestanden, vor sich gegangen sind. Alles umfaßt sie – das Sichzusammenziehen und Sichausdehnen der Milchstraße, das Aufflammen und Erlöschen kosmischer Nebel. Leben entsteht und erstirbt auf Planeten. Sonnen glühen auf und erkalten – aber diese Formel bleibt gültig bis in alle Ewigkeit. Beginnst du zu begreifen, was ich meine? Innerhalb unserer Welt gibt es keinen anderen Glauben als den an den Menschen und keine andere Unsterblichkeit als die, die in diesen Stein gemeißelt ist Wer um sie kämpfen will, muß ein heißes Herz, einen kühlen Verstand haben, und er sollte sich darüber im klaren sein, daß sich so mancher damit abfinden muß, aus dem Leben zu scheiden, ohne in der Wissenschaft etwas erreicht zu haben; denn nicht immer entdecken jene die Wahrheit, die es am meisten ersehnen. Es ist dir wohl erlaubt zu hoffen; aber das hilft dir leider gar nichts – niemand und nichts hilft dir, wenn du unter Hilfe ein Rezept für Entdeckungen verstehst. Doch eine Hilfe findest du stets: den reichen Schatz der Erfahrungen, den die Wissenschaftler der Erde in Tausenden von Jahren angehäuft haben. Setz dich hier auf die Bank, die dein Großvater aufgestellt hat, und denke darüber nach, ob es sich unter diesen Perspektiven für dich lohnt, Forscher zu werden.‘“
Arsenjew machte eine Pause.
„An diesem Abend und auch in den nächsten Wochen spürte ich manchmal, daß der Blick meines Vaters auf mir ruhte. Vater wollte meine Antwort hören; aber – ich weiß selbst nicht recht weshalb, vielleicht fehlte es mir an Mut – ich zögerte sie hinaus.
Ein halbes Jahr später sollte ich zur Beobachtung einer Sonnenfinsternis mit einer astronomischen Expedition nach Australien reisen. Mein Vater fühlte sich nicht wohl, ich zauderte; aber er wünschte, daß ich führe. Er starb während meiner Abwesenheit; ich war nicht einmal bei seinem Begräbnis dabei. So seltsam es klingen mag – ich vermochte nicht an seinen Tod zu glauben. Nach meiner Rückkehr hielt ich mich
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