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Der Planet des Todes

Der Planet des Todes

Titel: Der Planet des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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zwei Wochen in Moskau auf. Ich hatte allerlei Dinge zu erledigen, die mit der Expedition, der bevorstehenden Verteidigung meiner Doktordissertation und mit dem Tode meines Vaters verbunden waren, so daß ich erst im Oktober für einige Tage unser Haus in der Nähe Moskaus aufsuchen konnte. Ich kam allein hin und traf niemanden an; aber die Zimmer waren aufgeräumt, und im Kamin in der Halle brannte das Feuer. Als ich an Vaters Zimmer vorbeiging, wollte ich unwillkürlich dreimal anklopfen, wie ich es immer getan hatte – blieb jedoch mit erhobener Hand stehen. Im Pelz, so wie ich gekommen war, trat ich an den Kamin, der Rauch des Birkenholzes schlug mir entgegen, und erst in diesem Augenblick glaubte ich daran, daß mein Vater wirklich nicht mehr lebte. Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Kamin gestanden habe. Es geschieht nicht oft, daß sich irgendein abgenutztes, alltägliches Wort plötzlich wie ein Abgrund vor einem auftut. Dort, vor diesem Kamin mit den prasselnden Holzkloben, begriff ich den Sinn des Wortes ,nie‘. Auf der Erde leben und werden weiterhin Tausende, Millionen, Milliarden Menschen leben, gute und schlechte, berühmte und namenlose; aber in diesem durch die Jahrhunderte ziehenden Menschenstrom wird nie mehr, niemals wieder dieser eine Mensch sein, den ich so sehr geliebt habe, daß es mir gar nicht bewußt geworden ist. Ebenso lieben wir alle die Erde, und ebensowenig werden wir uns dessen bewußt. Wir nehmen sie hin als das Allgegenwärtige, das Notwendige, das Selbstverständliche. Wahre Werte erkennen wir erst, indem wir sie verlieren.
    Ja – es ist für mich eine sehr schmerzliche Erinnerung; denn ich verlor damals nicht nur den Vater, sondern auch den unklaren, aber mächtigen blinden Glauben der Jugend, daß ihr nichts widerstehen,daß sie alles erobern könne und auf nichts zu verzichten brauche. Doch die Augenblicke, in denen mit diesen irrigen Anschauungen gebrochen wird, machen die Menschen stärker und reiner. Die Idee von einer Welt vollkommenen Glückes kann nur dem Gehirn eines Dummkopfes entspringen; denn selbst in der vollkommensten Welt wird immer der Himmel, das Weltall mit dem Rätsel seiner Unendlichkeit über den Menschen sein, und ein Rätsel bedeutet Unruhe. Und das ist gut so; denn Unruhe treibt uns zum Denken.“
    Nachher, als die anderen bereits in ihre Kabinen gegangen waren, wandte sich Arsenjew an mich: „Bleiben Sie noch hier? Wir können ja noch eine Weile Radio hören.“
    Ich nickte. Eine Zeitlang saßen wir schweigend in den Polstersesseln. Aus dem eingebauten Lautsprecher floß gedämpfte Musik: Tschaikowski … Als sie verstummte, trat Stille ein, so vollkommene Stille, wie man sie auf der Erde wohl nur in der entlegensten Einöde findet – am Meer oder in den Bergen. Es schien uns, als wären wir in dem unbeweglichen, von weichem Licht durchfluteten Innern dieser Kabine jenseits von Zeit und Raum. Hell glühte zwischen den Sternen im Leuchtschirm der bläuliche Funken Erde. Arsenjew fragte mich nach meiner Jugend. Ich erzählte ihm von meinem Großvater, den ersten Bergwanderungen, von meinem heimatlichen Kaukasus. Den kannte er sehr gut. Er hatte viele der Gipfel bestiegen, die ich in Gedanken beinahe schon zu meinem Eigentum erklärte. Wir sprachen von sturmumwehten Graten, von den Lagern, deren Insassen im Schneesturm erfroren waren, von den tollkühnen Klettereien, bei denen das Leben manchmal von der Reibung eines Sohlennagels an einem Stein abhängt, von tückischem Schnee und lockerem Gestein, das unter der zugreifenden Hand zerbröckelt, und von jenen Augenblicken, da man endlich auf dem letzten, höchsten Felsen eines Gipfels steht.
    Unser Gespräch wurde von immer längeren Pausen unterbrochen. Wir wechselten nur noch kurze, abgerissene Sätze, die einem Laien unverständlich gewesen wären. Sie beschworen jedoch so starke und deutliche Bilder herauf, daß die Zeit, die uns davon trennte, zu einem Nichts wurde. Ich hatte das Gefühl, Arsenjew schon wer weiß wie lange zu kennen, und wunderte mich plötzlich, daß ich nicht einmal seinen Vornamen wußte. Ich fragte ihn danach.
    „Pjotr“, antwortete er.
    „Sind Sie allein?“
    Er lächelte. „Nein, ich bin nicht allein.“
    „Ich denke nicht an Ihre Arbeit“, sagte ich, und es war mir auf einmal ein bißchen peinlich, ihn so auszufragen, „auch nicht an die Eltern.“
    Er nickte zum Zeichen, daß er mich verstand. „Ich bin nicht allein“, wiederholte er und sah mich an. „Und Sie?

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