Der Poet der kleinen Dinge
nicht?!«
Marlène gießt sich eine große Tasse Kaffee ein, trinkt ihn in kleinen Schlucken und pustet immer wieder, weil er noch zu heiß ist. Sie fährt mit ihrem Klagelied fort. Sie bräuchte mal einen Tapetenwechsel, sie möchte weg von hier, ein bisschen frei sein, Urlaub nehmen und die Berge sehen.
Plötzlich bricht sie ab und wendet sich direkt an mich, beide Fäuste in die Hüften gestemmt: »Das ist doch nichts Unmögliches, was ich da verlange! Ich will ja nicht auf den Mond oder auf den Mars, nur mal in die Berge!«
»Warst du schon lange nicht mehr da?«
»Soll das ein Witz sein? Ich hab noch nie einen Fuß dorthin gesetzt! Im Fernsehen und in Filmen habe ich sie gesehen. Deswegen, verstehst du, sage ich mir manchmal, mit fast siebenunddreißig …«
Sie schaut mich aus dem Augenwinkel an, um zu sehen, ob ich die Mogelei bemerkt habe. Marlène ist nämlich in Wirklichkeit zweiundvierzig. Das weiß ich, weil sie neulich ihren Ausweis und den von Bertrand auf dem Küchentisch hat liegenlassen, nachdem sie irgendein amtliches Formular ausfüllen musste. Er ist drei Jahre älter als sie. Aber ich lasse mir nichts anmerken, worauf sie etwas entspannter weiterredet: »Wenn ich dir sage, was ich mir wünsche, machst du dich nicht über mich lustig, nein?«
»Sag schon.«
»Ich würde gern mit Bertrand mit der Eiergondelbahn bis hoch auf die Gipfel fahren.«
»Das wäre ja mal eine Mordsabwechslung für ihn.«
»Was?«
»Die Eiergondeln.«
Sie schaut mich mit ihren Kuhaugen an, denkt angestrengt nach und lacht schließlich. »Ach so, die Eier, klar! Du meinst, wegen der Fabrik? Wegen den Eiern und den Hühnern, ja?«
Ich zwinkere ihr zu.
Sie redet weiter, während sie die Hundehaare von den Sofakissen klopft. »Aber daraus wird nichts! Es wird nicht gehen, da brauche ich gar nicht erst zu träumen! Wir werden nie genug Kohle haben, und außerdem ist es sowieso sinnlos, wegen dem da …«
Der da, das ist Roswell. Inzwischen kenne ich seine Geschichte von A bis Z.
Angefangen mit der alten Mama, die ganz allein war und sich nicht von ihrem Gérard trennen wollte, ihrem Nachzügler, der »anders« war als die anderen, und die sich bis zum Schluss um ihn gekümmert hat. Die ihn trotz allem liebte, über alles. Diese alte Mama, die vor knapp drei Jahren still und leise gestorben ist, an einer Krankheit, an Verschleiß. Und Bertrand, der alles erbt: die Wohnzimmermöbel im Henri-deux-Stil, das Geld vom Sparbuch und seinen schwachsinnigen Bruder, der lacht wie ein Baby und ihm die Arme entgegenstreckt, sobald er ihn reinkommen sieht.
Marlène meint, es ist im Leben nicht das Problem, wenn man kein Herz hat, sondern im Gegenteil, wenn man eins hat. Bertrand ist ein Gefühlsdusel. Pech gehabt.
»Er hätte ihn irgendwo unterbringen können, seinen Bruder, meinst du nicht? Dann hätten wir wenigstens unsere Ruhe! Aber so bin ich es, die alles abkriegt! Als ob ich nichts anderes zu tun hätte! Und es ist sicher nicht wegen der Behindertenbeihilfe. Er kostet uns so viel, wie er uns einbringt, wir haben nicht die Bohne was davon, dass er bei uns ist.«
Sie sagt das im Beisein von Roswell, der vor dem Fernseher sitzt, seine große Serviette um den Hals gebunden, Tobby an seiner Seite, der sich an seinen mageren Oberschenkel schmiegt und die Lefzen auf sein knochiges Knie legt. Er ist ständig bei Roswell. Sobald er ihn sieht, drückt er sich an ihn und weicht nicht mehr von seiner Seite. Er zeigt ihm seine Freude, so gut er das mit Rheuma und Lungenemphysem eben kann, aber mit dem Schwanzstummel wedelt er uneingeschränkt.
An manchen Tagen sehe ich, dass Marlène sich darüber ärgert. Pure Eifersucht. Sie will, dass man sie am liebsten hat.
Tobby ist eine scheußliche Promenadenmischung. Er ist fett, hat eine kurze Schnauze, O-Beine, das fliehende Hinterteil einer Hyäne, vorstehende, tränende Augen, und er stinkt verboten aus dem Mund. Aber er ist Marlènes große Liebe, ihr vierzehn Jahre alter Schatz.
Seit er hustet wie ein Kettenraucher, vergeht sie vor Sorge um ihn.
»Tiere können einem den größten Kummer machen. Schon damals, als ich meinen Rex verloren habe, dachte ich, ich würde mich nie mehr davon erholen! Und jetzt er …«
Sie schenkt sich ein Glas Wein ein und hält Roswell auch eins hin, der seine zitternde Hand danach ausstreckt, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. Dann dreht sie sich zu mir um, eine Augenbraue fragend hochgezogen.
Ich schüttele den Kopf. Sie drängt mich
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