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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Wäscheleinen –, hingesetzt wie Kuhfladen auf winzige Grundstücke, mit Blick auf die Gebäude der Hühnerfarm, die Bahnlinie, die Zuckerrübenfelder, die Landstraße und die Lagerhallen Mériaux & Söhne – Achtung , Lkw-Ausfahrt .
    Manchmal denke ich an die Kinder, die nichts anderes haben, um Wurzeln zu schlagen. Ich frage mich, was sie sich in dieser Trümmerlandschaft wohl für Spiele ausdenken. Und ihre Eltern, was haben die sich gedacht, als sie hier bauen ließen? War eben günstig, das ist ihre Entschuldigung. Aber wenn man dann zwölf Monate im Jahr in einer schäbigen Bude in einer abgewrackten Umgebung lebt, ist die Sparsamkeit verdammt teuer bezahlt.
    Kurz vor den neuen Siedlungen liegt ein Gewerbegebiet mit dem Namen »Das Reich der Könige« – je beschissener die Sache, desto schöner muss sie heißen –, ein Laden am anderen, ganz aus Beton, Rigips und verglasten Wänden: McDonald’s, Real, Ikea, Metro und all die anderen.
    Unsere kleine Welt. Unser Pausenhof. Unser einziges Ausflugsziel mit der Clique, vor allem im Winter, wenn es draußen schifft und drinnen Zoff gibt, wenn man sein Leben dafür geben würde, sofort zu krepieren, statt sich zu Tode zu langweilen.
    Wie oft haben wir unsere Tage damit zugebracht, da rumzuhängen, unter der Sonne der Spotlights, in der fröhlichen Welt der Shoppingmeile, mit den ewig gleichen Kumpels und den ewig gleichen Fragen: »Gehen wir ins Kino? Was trinken? Eine Runde kegeln?«
    Und samstagabends: »Gehen wir ins Moulin Bleu, ins Sun oder ins Péniche?«
    Am Sonntag fielen wir dann um fünf Uhr morgens ins Bett, uns war schlecht von zu viel Bier, unsere Lungen waren zugeteert von zu vielen Zigaretten, und wir hatten das dumpfe Gefühl, völlig umsonst abgehangen zu haben. Aber egal, es war vorbei, morgen würde alles besser werden, spätestens nächste Woche, das war sicher.
    Zwischen den Wochenenden dümpelten wir in der Schule dahin, mit Lehrern, die ins Leere redeten, die uns wegen jeder Kleinigkeit anbrüllten – angeblich bauten wir nichts als Mist – oder denen alles scheißegal war. Das waren die schlimmsten.
    Das Härteste war nicht, so zu tun, als würden wir uns ihren Mist anhören, sondern sechs oder acht Stunden am Stück auf unserem Stuhl zu sitzen. Krämpfe in den Füßen, Kribbeln in den Beinen und Lust, dem Erstbesten in den Hintern zu treten.
    Heute ist das alles weit weg. Wenn ich jetzt die Jugendlichen sehe, die aus der Schule kommen, finde ich sie schlecht angezogen, pickelig, unfertig, und dabei hielt ich mich selbst in ihrem Alter für wahnsinnig erwachsen.
    Ich fange an, mich alt zu fühlen.
    Der Zackenbarsch meint, das wäre normal, weil wir auf die dreißig zugehen, aber letztlich könnte es uns scheißegal sein, weil das Leben im Endeffekt selten prestigeträchtig ist.
    Das ist ein Wort, das ihm gefällt. Er hat zwei oder drei von der Sorte, prestigeträchtig , paradox , abusiv . Ich frage mich, ob er überhaupt weiß, was sie bedeuten, aber da ich mir selbst nicht sicher bin, sage ich lieber nichts.

 
    W enn ich vom Kanal zurück nach Hause gehe, sehe ich in den Siedlungen immer ein, zwei Kinder mit ihren Spielzeugautos spielen, in dem alten Sandhaufen, den ihr Vater neben dem Betonmischer hat liegenlassen. Sand, der den Regen abkriegt und die Hundescheiße. Da können sie wunderbar Goldsucher spielen: Sie müssen nur ein bisschen schürfen, schon finden sie Klumpen.
    Aber es ist komisch, trotz allem beneide ich diese Knirpse ein bisschen. Sie können stundenlang am selben Fleck hocken, Tunnel graben, Brücken bauen und sich dabei für Straßenbauingenieure halten. Und wenn sie die Augen zumachen würden, dann könnten sie das Meer hören, die Brandung der Zwölf- und Dreißigtonner, die vor den Lagerhallen kreuzen.
    Warum sollte man diese Kleinen bedauern? Sie haben alles Glück dieser Welt: Sie haben keine Sorgen, es ist immer jemand da, der ihnen die Wäsche wäscht oder etwas zu essen macht. Jemand, der ihre Wehwehchen verarztet. Sie leben »auf dem Land«, wie man so schön sagt. Sie können den Ammoniakduft aus der Hühnerfarm genießen, der einem in der Nase sticht, wenn der Wind von Norden kommt, das Quietschen wie von einer abgestochenen Sau, das die Güterzüge machen, wenn sie am Depot halten, und das Ganze »mit einem Himmel, so grau, dass ein Kanal sich erhängt hat«.
    Als ich klein war, hörte mein Großvater dieses Lied von Jacques Brel über sein flaches Land rauf und runter. Ich verstand »mit einem

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