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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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noch extra aufdreht, nur um sie auf die Palme zu bringen. Marlène brüllt, dass sie davon Migräne kriegt, dass er eine Lärmbelästigung ist und dass sie diesen Radau nicht mehr aushält.
    »Wirst du wohl still sein, Hornochse? Wirst du wohl still sein? Halt die Klappe!«
    Roswell klatscht in die Hände. Er amüsiert sich prächtig.
    Mir gefällt es, ihm dabei zuzusehen, auch wenn es wirklich unerträglich ist. Und dann endet es immer ganz plötzlich. Und Marlène seufzt: »Das wurde aber auch Zeit!«
    Sie wendet sich an mich: »Ich sag’s dir, die reinste Heulboje! Wie hältst du das nur aus?«
    An manchen Abenden ist sie einfach nur genervt. An anderen voller Hass. Als würde ihr die Galle hochkommen und sie ganz ausfüllen, wie wenn ein verstopfter Abfluss überquillt.
    An diesen Abenden kriegt Roswell dann seinen Waisenkindblick, mit einem kleinen zitternden Lichtlein tief in seiner Pupille. Er fragt mich, und nur mich: »Ich sssing schön, nich?«
    »Na klar singst du schön!«
    Roswell entspannt sich. »Sssuper!«, und lacht sich schlapp.
    Ich zwinkere ihm zu. Er kneift beide Augen zusammen.
    Marlène lacht höhnisch auf. »Besser, das zu sehen, als taub zu sein!« Und geht achselzuckend davon.

 
    N eben dem Haus von Bertrand und Marlène steht ein Schuppen, halb zerfallen und mit einem Eternitdach. Eine ehemalige Werkstatt, ich weiß nicht wofür, in der ein Haufen Krempel rumliegt, der jeden Flohmarkthändler glücklich machen würde.
    Ich stöbere gern in so was, je ramschiger, desto besser. Ich suche nichts Bestimmtes, nichts Besonderes, ich bin für alles zu haben. Und in dem ganzen Plunder bin ich eines Morgens auf ein altes Wägelchen gestoßen. Ein stabiles, sperriges Ding, das von einem Bastler unter LSD zusammengeschweißt worden sein muss. Vier schwenkbare Gummiräder wie von einem alten Tretroller, montiert unter einer dicken, breiten Hartfaserplatte, die orangegelb und spinatgrün gestrichen war. Das Ganze mit einer beweglichen Wagendeichsel aus knallrot lackiertem Stahlrohr.
    Wozu das Ding ursprünglich gut sein sollte, werde ich wohl nie erfahren. Zuerst habe ich es gesehen, ohne es wirklich wahrzunehmen. Es ist mir einfach aufgefallen, weil es aussah wie ein Spielzeug. Aber eines Tages, als ich von der Arbeit kam, habe ich mich wieder daran erinnert.
    Im Wohnzimmer stand Roswell ganz allein am Fenster. Marlène musste einkaufen sein, ihr Auto war nicht da. Sie nimmt ihn nie mit. Roswell lehnte seitlich am Wohnzimmerschrank, wie immer kurz vorm Umfallen, aber er stand, und er sah sich an dem Ausblick satt – an nichts, mit anderen Worten. Von dem Fenster aus sieht man nichts als graue Erde, die Bäume am Kanal und etwas weiter die Lagergebäude von Mériaux & Söhne , die Strommasten und die ersten Siedlungen. Aber er wirkte völlig hypnotisiert von diesem Horizont voller Leere und matschigem Brachland.
    Ich habe mich neben ihn gestellt, so dicht, dass ich ihn berührte, aber nur ganz leicht, um ihn nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ich habe meine Schulter an seine gedrückt, die sich ganz knochig anfühlte unter dem weiten Pulli, ohne Fleisch und Wärme, und dann habe ich eine Weile mit ihm hinausgeschaut.
    Schließlich habe ich ihn gefragt: »Woran denkst du?«
    Ohne den Kopf zu bewegen, hat er gemurmelt: »Dassiss hüsch!«
    »Du findest das hübsch?!«
    »Mja.«
    »Aber was denn? Was findest du da hübsch?«
    In seiner feuchten Roswell-Sprache hat er genuschelt: » Vogelfarbner-Baum-ich-hab-keine-Anssst-mehr-vorm-flachen-Land … «
    Ich habe gelächelt. »Wieder ein Gedicht, ja?«
    Er hat gezwinkert und weitergesprochen, kaum verständlich: »…  ich-kann-wechfliegn-durchn-schwarzn-Himmel … «
    Und plötzlich war Roswell ein großer, in einem Käfig gefangener Vogel. Ein magerer, unbeholfener Vogel, mit zu krummen Flügeln, um davonfliegen zu können. Ohne nachzudenken, habe ich gesagt: »Wenn ich das nächste Mal freihabe, nehme ich dich mit spazieren, wenn es nicht regnet, okay?«
    Er hat mich nicht einmal angeschaut, er hat nur die Mundwinkel nach unten gezogen, um zu antworten: »Okeh-Scheff!«

 
    A ls ich Marlène zwei oder drei Tage später gesagt habe, ich hätte beschlossen, mit Roswell spazieren zu gehen, hat sie verdattert wiederholt: »Spa-zie-ren?«
    »Ja.«
    »Du willst mit dem Dussel spazieren gehen?!«
    »Ja.«
    »Äh … wozu?«
    »Einfach so, damit er mal rauskommt. An die Luft.«
    »Und wo willst du hin?«
    »An den Kanal.«
    Ich spürte genau, dass

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