Der Poet der kleinen Dinge
ihr die Sache gegen den Strich ging, und ich wusste auch, warum. Sie legte keinen Wert darauf, dass man auf Gérard aufmerksam wurde, weil sie ja vorhatte, ihn auszusetzen. Und wenn ich jetzt anfing, mit ihm durch die Gegend zu ziehen, würde man ihn früher oder später bemerken. Er ist nicht gerade unauffällig. Ich verstand ihre Angst.
Aber gleichzeitig sind die Nachbarn weiter weg, als das Auge reicht, wie sie immer sagt. Die nächsten Häuser stehen jenseits der Fabrik oder in Richtung Landstraße. Und am Kanal entlang ist nie jemand unterwegs.
Ich konnte sehen, wie sie nachdachte. Sie musste sich sagen, wenn sie mir verbieten würde, mit Gérard rauszugehen, könnte ich Verdacht schöpfen. Es wäre besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen und sich nicht zu sehr einzumischen. Sie hat mir ihr grundehrliches Taschendiebslächeln gezeigt.
»Und wie willst du das anstellen, mit ihm spazieren zu gehen? Du hast doch sicher bemerkt, dass er sich nicht auf den Beinen halten kann, oder?!«
Und dann, als würde es ihr plötzlich einfallen, in schrofferem Ton: »Du hattest nicht zufällig vor, dir den Renault auszuleihen? Wenn das nämlich so ist, sage ich dir gleich: Kommt nicht in die Tüte!«
»Ich habe nicht vor, das Auto zu nehmen.«
»Na, dann weiß ich nicht, wie das gehen soll.«
»Ich schon. Ich hab da eine Idee.«
Marlène hat nur wieder mit den Achseln gezuckt.
A n meinem nächsten freien Tag habe ich den Morgen im Schuppen verbracht, um an einem System mit altem Wäschedraht und einer durchsichtigen Plastikplane rumzubasteln. Ich wollte eine Art faltbares Verdeck bauen, um Roswell zu schützen, falls es regnen würde. Hier in der Gegend ist das Wetter unberechenbar.
Ich habe ein zusammengeklapptes altes Gartenliegenkissen auf die Hartfaserplatte genagelt, um sie ein bisschen zu polstern. Dann habe ich das aufgemotzte Wägelchen vor dem Hauseingang geparkt und bin zu Roswell hochgegangen. Er saß in seinem Sessel am Fenster. Marlène holt ihn nicht jeden Tag runter, es kommt darauf an, was sie vorhat, und auf den Grad ihrer schlechten Laune.
»Auf geht’s, anziehen!«, habe ich gesagt.
Ich habe ihn mit einem dicken Pulli, einem Schal und Fäustlingen ausstaffiert. Er hat sich dabei schlappgelacht, wie immer.
Dann habe ich hinzugefügt: »Heute ist der große Tag! Wir gehen spazieren!«
Er hat mit einem Schlag aufgehört zu lachen und mich mit einer komischen Mischung aus Staunen und Unsicherheit angeguckt.
Ich spürte, dass er keine Angst davor hatte, mit mir loszuziehen, sondern davor, enttäuscht zu werden. Dass es nur ein schlechter Scherz sein könnte. Dass ich ihm, wenn er fertig angezogen wäre, sagen würde: »Das war doch nur ein Witz, du Trottel! Du bleibst natürlich hier!«
Und trotzdem stand in seinen Augen immer noch dieses Cockerspanielvertrauen, das ich so hasse, weil ich mich dann für ihn verantwortlich fühle, aber es war zu spät. Ich habe schon zu viel von meiner freien Zeit damit verbracht, ihm Geschichten vorzulesen, seine Gedichte zu entschlüsseln, an dieser Karre rumzubasteln, um sie in eine Kutsche zu verwandeln – ich brauchte mir nichts mehr vorzumachen: Ich hatte Roswell gern. Pech gehabt.
Es passte mir nicht, war aber so.
Als wir Stufe um Stufe endlich unten waren, Roswell eingepackt, als ginge es zum Nordpol, Jacke zu bis oben hin, Schal um den Hals, Mütze tief in die Stirn und Kapuze obendrüber, stand Marlène breitbeinig in der Haustür. Sie betrachtete die Karre mit misstrauischem Blick, die Arme verschränkt, die Beine fest in den Boden gestemmt.
»Wo hast du denn dieses Ding aufgetrieben?«
»Im Schuppen.«
»Und damit willst du den Dödel ausfahren?«
»Ja, ich will mit ihm an den Kanal, wie gesagt.«
»Na, da werdet ihr aber ’ne Weile brauchen!«
»Das macht nichts, wir haben Zeit.«
Sie hätte beinahe noch etwas hinzugefügt.
Ich habe ihr den Rücken zugekehrt und Roswell geholfen, sich auf den Wagen niederzulassen. Das war nicht einfach, weil er tief in die Knie gehen musste, um seinen knochigen Hintern auf die Platte setzen zu können. Mit seinen schlappen Muskeln ließ er sich einfach hängen, sodass ich fast sein ganzes Gewicht trug. Und, wie Marlène sagen würde: Er ist zwar mager, aber so schwer wie ein toter Esel.
Sie schaute mir zu, ohne einen Finger zu rühren. An ihrem undeutlichen Lächeln und ihrem hämischen Blick konnte ich ablesen, dass sie keinen guten Tag hatte.
Als Roswell endlich einigermaßen saß, habe ich ihm
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