Der Poet der kleinen Dinge
Himmel, so grau, dass ein Wal sich erhängt hat« und fand den Text völlig bescheuert. Ich sagte mir: Warum sucht er denn nicht das Weite, statt sich zu erhängen, dieser Wal? Er kann doch schwimmen, oder? Er muss ja nicht dableiben. Wenn ich ein Wal wäre, würde ich abhauen!
Ich bin aber kein Wal. Also bin ich hiergeblieben.
I ch lebe noch bei meinen Eltern, im alten Stadtkern. Ich bin zu ihnen zurückgekehrt, nachdem meine Freundin Lola eines Morgens mit mir Schluss gemacht hat, wegen nichts und wieder nichts, einer Bagatelle. Ich stand plötzlich auf der Straße, weil sie mit ihrem Mindestlohn die Miete zahlte, seit ich wieder arbeitslos war. Ich bin in fünf Jahren viermal entlassen worden. Ich sollte mich an die Gewerkschaften verkaufen, ich habe einen unfehlbaren Riecher dafür, die Fabriken zu finden, die pleitegehen.
Ich mag dieses Viertel. Es riecht nach frittierten chinesischen Teigtaschen, nach den Pommes von der Pommesbude und denen der Flurnachbarn. Und nach dem Schmieröl der Motoren in der Autowerkstatt Paulin, die unten im Haus ist. Man atmet von morgens bis abends Öl ein. Wenn man Cholesterin durch die Nase aufnehmen würde, sähe es für unsere Arterien zappenduster aus.
Hier ist ständig die Hölle los. Man hört die Säufer, die sich nachts vor der Kneipe prügeln oder in der Sackgasse in die Mülltonnen kotzen, die Jugendlichen, die die Nerven der Schlaflosen strapazieren, wenn sie um zwei Uhr morgens auf ihren frisierten Mopeds durch die Straßen rasen. Babys, die nach ihrer Mutter brüllen. Köter, die wegen jeder Kleinigkeit kläffen: wegen einem leeren Napf, einer läufigen Hündin, einer zugeknallten Tür. Die Straßen sind eng, und die Wäsche hängt auf den Balkonen, fast wie in Italien, nur dass sie hier nicht trocknet, weil die Luft voll Wasser ist.
Um hier in der Gegend gut zu leben, bräuchte man Kiemen. Eines Tages werden uns welche wachsen, und dann wird man uns als Beispiel für die Mutation unserer Gattung anführen.
Es ist hässlich, zugegeben. Aber lebendig.
Und zwischen all den Backsteinmauern sieht man so wenig vom Himmel, dass man beinahe vergessen könnte, dass er fast immer die gleiche unsägliche Farbe hat. Wenn man ihn anschaut, kapiert man sofort, dass er ein Himmel ohne Zukunft ist. Dass man warten und warten und warten kann, solange man will. Er wird sich mit seinem Los begnügen, und das war’s, wie ein weiser alter Säufer: »Ich bin blau – hicks – na und? Wen stört’s?«
Nur dass der Himmel nicht blau, sondern grau ist …
E s ist windig.
Ich schlage meinen Jackenkragen hoch, die ersten Tropfen klatschen vor mir auf den Boden. Mit einem Schlag ist Sintflut angesagt, und die Pfützen, die sich ruck, zuck bilden, sind voll mit schönen, bunt schillernden Ölschlieren.
Es gefällt mir, durch den strömenden Regen zu laufen und »gegen die Elemente zu kämpfen«, wie mein Kumpel Stef sagt, der ein echter Dichter ist. Ich weiß, es klingt dämlich, aber es gibt mir das Gefühl zu leben, wenn ich allein draußen und bis auf die Knochen nass bin.
Ich hätte Lust, einen Zwischenstopp in der Eckkneipe einzulegen, nur fünf Minuten, und mit dem Zackenbarsch einen zu heben. Oder lieber nicht. Ich muss den Alltagstrott durchbrechen, es wird Zeit.
Ich habe nicht bemerkt, wie die achtzehn Jahre zwischen meiner Grundschulzeit und heute Abend vorbeigerauscht sind. Sie kommen mir vor wie eine einzige graue Suppe, mit zwei, drei Petersilienstängeln obendrauf. Es muss sich dringend etwas ändern.
Wenn schon kein Schicksal, dann sollte ich doch vielleicht wenigstens eine Zukunft haben.
Zurück auf die Hühnerfarm
M arlène sagt, sie kann nicht mehr.
Sie würde noch zusammenbrechen oder platzen, wenn das so weiterginge.
Es gibt solche Tage, an denen sie in einem fort seufzt und einen Höllenradau macht. Sie zerrt die Stühle über den Kachelboden, donnert mit dem Besen gegen die Fußleisten, knallt die Schranktüren zu. Tage, an denen die Nerven blankliegen und die Hormone verrücktspielen, an denen sie mit dem Geschirr in der Spüle scheppert, flucht und laut vor sich hin schimpft.
Marlène meint, sie hätte niemals heiraten sollen, niemals.
»Ich war viel zu jung, ich war nicht reif dafür! Meine Mutter hätte mich davon abhalten sollen, findest du nicht? Sie hätte doch sehen müssen, dass ich noch ein Gör war. Das wäre ihre verdammte Pflicht gewesen! Eltern müssen ihre Kinder davor bewahren, sich die Pfoten zu verbrennen, oder etwa
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