Der Poet der kleinen Dinge
nicht weiter.
»Das ist vielleicht nicht sehr gut für ihn, weißt du …«, sage ich und zeige auf Roswell, der jetzt Rotwein auf seine Serviette sabbert.
Sie zuckt mit den Achseln. »Ach was, wenn es mir nichts tut, kann es ihm auch nicht schaden.«
Ich bereite meinen Mittagsimbiss vor und schaue dabei durchs Küchenfenster auf die Hühnerfarm. Es stinkt schon rein optisch.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkomme, hängt Marlène mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher und schaut sich eine Quizsendung an.
»Weißt du, wie die Hauptstadt von Moldawien heißt?«
»Nein.«
»Die haben Fragen, ich schwör’s dir! Ich wusste nicht mal, dass es Moldawien überhaupt gibt! Aber man kann sich ja auch nicht alle Länder von Südamerika merken …«
Roswell ist in seinem Sessel halb eingenickt, Tobby liegt auf seinen Füßen und schläft.
Ich mache die Tür auf.
»Chisinau! Chisinau heißt die Hauptstadt!«, brüllt Marlène mir hinterher. »Ich frage mich, wer die wohl kennt!«
»Die Leute, die in Moldawien leben.«
Draußen ist der Himmel bleigrau. Der Wind weht und trägt den Gestank der Hühnerfarm davon.
Es riecht nach gemähtem Gras.
M arlène hat einen neuen Angriff gestartet.
Ich war gerade oben und habe einen Krimi gelesen, als ich hörte, wie sie Bertrand fragte: »Hast du noch mal über meine Idee nachgedacht?«
Sie sagte das in diesem honigsüßen Ton, den sie anschlägt, wenn sie etwas erreichen will. Ihre Fliegenkleisterstimme.
Bertrand hat geknurrt: »Welche Idee?«
»Du weißt doch! Wegen dem Dödel … Alex wird bald nicht mehr da sein, deshalb habe ich mir gedacht … Ich meine, ich habe mich gefragt, ob du nachgedacht hast.«
»Nein, ich habe nicht nachgedacht. Es geht einfach nicht.«
»Na, da hätte ich aber gern, dass mir mal einer erklärt, warum!«
»Weil man das nicht machen kann, basta. Hör auf damit, klar?«
Marlène hat misslaunig geseufzt: »Ist doch immer dasselbe! Wenn die Idee nicht von dir ist, geht es nicht!«
»Er ist mein Bruder, ich kann das nicht machen. Außerdem habe ich keine Lust, im Knast zu landen.«
»Aber wenn wir ihn nur ein bisschen aussetzen?«
»…«
»Jetzt schau nicht so an die Decke, als ob ich Quatsch reden würde!«
»Also, entschuldige, aber ein bisschen aussetzen, darunter kann ich mir beim besten Willen nichts vorstellen.«
»Na, für den Urlaub.«
»…?«
»Ist doch klar: Wir setzen ihn in der Nähe von einer Polizeiwache aus, wir fahren eine Woche weg, nur du und ich als Liebespaar, und danach holen wir ihn wieder ab.«
Bei den Worten »als Liebespaar« hat sie ihre Stimme samtweich werden lassen, sinnlich schmachtend.
Aber die erotische Botschaft muss bei Bertrand nicht ganz angekommen sein, weil er nur geantwortet hat: »Meine Fresse, du bist wirklich durchgeknallt. Und wie willst du der Polizei erklären, dass wir meinen Bruder verloren haben und, statt ihn als vermisst zu melden, einfach weggefahren sind und es uns eine Woche lang haben gutgehen lassen?«
Marlène hat eine kleine Weile nichts gesagt. »Wir finden schon was!«, hat sie dann schließlich gemeint.
»Genau, ja: Du findest was, und dann reden wir weiter.«
Ich habe meine Tür zugemacht, mich aufs Bett gelegt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und an die rissige Decke gestarrt.
Nebenan hat Roswell angefangen zu singen.
Ich habe meine Kopfhörer aufgesetzt und die Musik voll aufgedreht.
R oswell singt gern.
Singen ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, aber es bezeichnet die Absicht dahinter. Wenn es ihn packt, dann schließt er die Augen, wirft den Kopf in den Nacken, zieht die Oberlippe noch ein bisschen höher als sonst und legt los.
Es ist selten eine bekannte Melodie – zumindest kann ich keine erkennen –, und es klingt für menschliche Ohren grauenhaft falsch, aber man muss ihn dabei nur anschauen, um zu verstehen, dass es ihn beruhigt, dass es ihn glücklich macht.
Marlène kann das nicht ertragen.
Sobald Roswell loslegt, bohrt sie sich beide Zeigefinger tief in die Ohren. Und verzieht das Gesicht zu einer der ausdrucksvollen Grimassen, die ihre Spezialität sind: mit rollenden Augen, zerknautschtem Mund und so weit zusammengezogenen Augenbrauen, dass sie sich berühren. Man müsste dämlich sein, um die Botschaft nicht zu kapieren. Dämlich sein oder Roswell heißen.
Der scheint das als Ermutigung aufzufassen, denn er grölt aus voller Kehle weiter und schaukelt auf seinem Stuhl hin und her. Ich frage mich sogar, ob er nicht
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