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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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hat tief durchgeatmet, er regt sich nicht gern auf, das strengt ihn zu sehr an. Und Anstrengungen machen müde.
    Er hat zwei Dunkle bestellt, damit wir uns den Dreck vom Gaumen spülen konnten. Das ist eine seiner Privattheorien: Nach einer bestimmten Anzahl von Hellen machen die Geschmackspapillen schlapp, sie verkleben. Man muss sie mit einem Bitter Stout wieder öffnen.

Alle Eier in einem Korb
    E s gibt sicher eine innere Logik, eine höhere Vernunft, die über allem waltet, was weiß ich. Jedenfalls würde ich das gern glauben.
    Ich habe eine Nachricht von meiner Freundin Clo bekommen. Ich mag sie wirklich gern. Das Projekt, von dem sie seit fünf Jahren redet, läuft endlich an. In ihrer Mail schreibt sie, ich soll doch mal vorbeikommen. Sie hat ein paar Fotos angehängt, um mich zu locken …
    Ich habe sie in meiner Mittagspause angerufen und ihr versprochen, mir das alles aus der Nähe anzuschauen, sobald ich hier fertig wäre.
    Als ich nach Hause gekommen bin, habe ich Marlène am Küchentisch vorgefunden – das ist ihr Hauptquartier, ihr Lebensmittelpunkt –, mit einer dieser Zeitschriften, in denen es nichts zu lesen gibt außer Werbung und gefakten, von Pharmafirmen finanzierten Studien, die einem sagen, wie man zwanzig Kilo verliert, ohne sein Essverhalten zu ändern, oder zwanzig Jahre, ohne sich zu häuten.
    Freundlich wie ein Pitbull sah sie aus.
    Sie blickte ständig mit Mordlust in den Augen zu Roswell rüber, der mit einer Schüssel Popcorn auf dem Schoß im Wohnzimmersessel hing. Ab und zu versuchte er, Tobby etwas zuzuwerfen.
    »Lllos, Hunnd! Ffang!«
    Rings um ihn herum war der Teppich mit klebrigen, karamellisierten weißen Klümpchen übersät, die der Hund nur zufällig fand, wenn er mit der Schnauze über den Teppich fuhr, weil er seit fast zwei Jahren keinen Geruchssinn mehr hat.
    »Lllos, Toh-bbhy! Lllooos!«
    Keine Frage, sie passten gut zusammen, die beiden.
    »Was findet dieser Hund bloß an ihm?!«
    Leicht eifersüchtig, die Lippen zusammengekniffen, hatte Marlène ihr Gelbsuchtgesicht aufgesetzt, als fände sie die ganze Welt zum Kotzen. Sie sah Roswell an, als wäre er ein Campingplatzklo, das sie putzen müsste.
    Die Idee, ihn auszusetzen, überkam sie erneut und heftiger als zuvor. Ich konnte das Feuer hinter den dicken blauen Augen lodern sehen. Zwischen den Bergen und ihr stand nur noch dieser Trottel.
    Schließlich ist es aus ihr herausgeplatzt: »Jetzt schau ihn dir an! Solche Missgeburten in die Welt zu setzen, das sollte verboten sein!«
    Ich hätte ihr fast geantwortet, da hätte sie recht, jawohl! Ich hätte erst kürzlich mit Stephen Hawking darüber gesprochen. Ein bisschen Selektion müsste doch erlaubt sein, um die Fehler, die Ausrutscher der Natur auszumerzen, damit es nur noch vollkommene Menschen gäbe. So wie uns, sie und mich … Aber ich wusste, dass sie zustimmen würde, und da kam es mir gleich weniger witzig vor.
    Plötzlich schaffte es Roswell zufällig, dem Hund, der genau in dem Moment gähnte, ein Stück Popcorn direkt ins Maul zu werfen.
    Daraufhin stimmte er ein haarsträubendes Gesangssolo an, um sich selbst zu beglückwünschen.
    Marlène hat ohnmächtig die Arme ausgebreitet. »Niemand wird ihn mir hüten, diesen Dödel, keine Chance! Du siehst ja, wie er ist! Ich werde die Alpen nie zu Gesicht bekommen!«
    Sie sah aus, als wäre sie drauf und dran, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, so niedergeschlagen, dass ich gesagt habe: »Ich könnte mich vielleicht um ihn kümmern.«
    Ich hatte mich selbst überrumpelt. Das passiert mir manchmal.
    » Das würdest du tun?!«
    Sie hatte die Frage so laut gestellt, dass Roswell sich zu uns umgedreht hat. Ich habe eine Grimasse in seine Richtung geschnitten. Er hat mit beiden Augen zurückgezwinkert. Dann habe ich mich wieder Marlène zugewandt und versucht, die Sache runterzukochen. »Ich habe vielleicht gesagt! Ich muss mir das noch in Ruhe überlegen.«
    Sie schaute mich gerührt an, die Augen vor Hoffnung geweitet. Ich fühlte mich von einer Aura göttlichen Lichts umgeben. Ich war ihr Wunder, ihre himmlische Erscheinung.
    Mit ganz schwacher Stimme hat sie noch einmal gesagt: »Das-würdest-du-tun?«
    In ihrem Blick zogen die lichtlosen Jahre vorüber, die immergleichen Tage, die nie verwirklichten Kinderträume.
    Und dann dieses Geschenk des Schicksals, Gottes Finger, der endlich auf sie zeigte: eine Woche in Brides-les-Bains. Die Eiergondelbahn mit Bertrand. Der berühmte Aussichtspunkt am Gipfel und

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