Der Portwein-Erbe
skeptisch. »Sollten sie es erfahren, so hat das den Vorteil, dass man sieht, wer sich bewegt. Da bleiben nicht viele:
Einer liegt im Krankenhaus, einer hat eine Praxis, da stellen wir jemanden hin – hat dein Freund Happe gesehen, wer in der
Nacht runtergefahren kam?«
»Ja, Dona Madalena höchstpersönlich, ohne Licht. Das ist mörderisch auf dem Weg, also wollte sie nicht gesehen werden.«
»War dein Freund Happe nicht vorher oben? Was hat sie ihm erzählt, worüber haben sie gesprochen?«
|356| »Über nichts Besonderes, meinte Happe – mein Gott, es liegt mir fern, meinen Freund auszufragen oder irgendjemandem Vorschriften
zu machen.«
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Du machst hier die Vorschriften, du setzt die Ziele, schaffst Regeln, bestimmst den
Umgang untereinander – wenn du es nicht tust, bricht die Quinta auseinander. Wir haben es damals in der Kooperative gesehen.
Um sinnvoll miteinander kooperieren zu können, brauchst du selbstständige und selbstbewusste Menschen. Wir hatten aber Menschen,
die sich seit Jahrhunderten mit gesenktem Blick für andere geknechtet hatten, sich aber nicht in eine Gemeinschaft einfügen
konnten, außer in überholte patriarchalische Familienstrukturen. Wenn die Aufsicht fehlte, fiel die Hacke oder die Schere
zum Traubenschneiden nur allzu schnell aus der Hand. Dazu kamen Angriffe der vertriebenen Besitzer, die politischen Debatten
wirkten wie Sprengstoff, und die Politkommissare der Stalinisten gaben uns den Rest.« Otelo sah auf die Uhr. »Hattest du nicht
einen Termin bei der Polizei? Wer wird übersetzen? Veloso womöglich?«
Nicolas zwang sich ein Lächeln ab. Auf dem Weg nach Peso da Régua gab Otelo Nicolas Instruktionen, wie er sich verhalten sollte
und worüber er besser nicht sprach. Er sollte jede Mutmaßung über eine Beteiligung des Arztes und von Mitgliedern der Sicherheitsdienste
unterlassen, damit weder Beweise unterdrückt noch die entsprechenden Personen gewarnt würden.
Nicolas hatte bei der Protokollaufnahme den Eindruck, dass die Kriminalpolizei wenig interessiert war, da er wieder aufgetaucht
war. Mithilfe der Presse für Wirbel zu sorgen, hatte Otelo für wenig sinnvoll erachtet. Die ermittelnden Beamten hüllten sich
in Schweigen, niemand ließ sich zu einer Vermutung hinreißen, die Anzeige jedenfalls wurde aufgenommen, und Nicolas war heilfroh,
als er wieder an der frischen Luft war. Man hatte die ganze Zeit |357| über Zweifel an seinen Erklärungen geäußert. Wenn es wirklich eine Entführung gewesen wäre, wieso hatte man ihn dann am nächsten
Tag laufen lassen? Von der »harten« Behandlung seien kaum Spuren zurückgeblieben. Außerdem vermutete der Beamte, dass Nicolas
etwas verschwieg. So hatte Nicolas ihn verstanden. Nur gut, dass Pereira keine Ruhe geben würde.
Happe, Otelo und er aßen in Pinhão im »Ponte Romana« zu Mittag, einem kleinen Restaurant an der Römerbrücke. Zicklein mit
frischen Kastanien würde es erst geben, wenn die Kastanien im Oktober reiften. Für Otelo, den Portugiesen, musste es
bacalhau
, Kabeljau, sein. Die beiden Freunde begnügten sich mit Meeresfrüchten und Kalbfleisch. Als Lourdes sie von Gonçalves’ Anruf
unterrichtete, sprang Nicolas auf, er bekam sowieso nichts runter, und auch die anderen verzichteten auf den Kaffee.
Nicht er selbst, sondern Gonçalves’ Frau habe angerufen, meinte Lourdes. Er würde Nicolas gern einiges erklären. Nicolas solle
Stillschweigen bewahren und allein kommen. Nicolas hätte Otelo lieber dabeigehabt, aber er respektierte Gonçalves’ Wunsch.
Doch mit Otelo und Happe als Eskorte fühlte er sich sicherer. Meyenbeeker war nach Porto gefahren, um die Bemühungen des Anwalts
um die Autopsie aus nächster Nähe zu verfolgen.
Gonçalves war von Natur aus klein geraten – im Krankenbett, das Laken bis unters Kinn hochgezogen, wirkte er noch winziger,
ein müder, blasser Kopf mit Bartstoppeln, eingefallenen Wangen und verschwitztem Haar. Der Anblick seiner Augen war für Nicolas
kaum erträglich, sie wirkten fiebrig und ängstlich. Sein Zustand war wirklich besorgniserregend. Senhora Gonçalves verließ
das Krankenzimmer, ohne ein Wort zu sagen. Nicolas rückte einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Happe und Otelo blieben im
Flur und behielten die Tür des Krankenzimmers im Blick.
|358| Auf die Quinta würde Nicolas den Verwalter keinen Fuß mehr setzen lassen. Der Kranke atmete flach, starrte vor sich hin,
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