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Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht (German Edition)

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht (German Edition)

Titel: Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Stiglitz
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Weltwirtschaftskrise den Schwerpunkt auf das Staatsversagen, genauso wie die politische Rechte den Bemühungen der US-Regierung, sozial schwachen Gruppen den Erwerb von Wohneigentum zu erleichtern, die Schuld an der Großen Rezession gab. Andere analysierten die gewaltigen Erfolge der Vereinigten Staaten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – ihre relative Stabilität, das rasche Wachstum, das allen zugutekam – und behaupteten, die Wirtschaft könne noch schneller wachsen, wenn wir nur deregulierten und Steuern senkten. (Dazu kam es allerdings nicht, wie wir aus früheren Kapiteln wissen: In der Ära der Deregulierung und Steuersenkung wuchs die Wirtschaft langsamer, und die Gesellschaft entwickelte sich auseinander.)
    Wie ich hinsichtlich der Gleichgewichtsfiktionen deutlich machte, lösen empirische Fakten Kontroversen nicht immer, denn je nach Standpunkt werden die Daten unterschiedlich ausgelegt. Auch wenn das Wachstum zur Zeit der Deregulierung und Steuersenkungen niedriger war und das Wohlstandsniveau der meisten Amerikaner sank, lassen sich andere Faktoren dafür verantwortlich machen – so wird argumentiert, es habe noch immer zu viel Regulierung und Unsicherheit geherrscht, und beides sei denjenigen anzulasten, die für eine weitergehende Regulierung eintraten. Analysen, die zeigen, dass die staatlich geförderten US-Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac nicht im Zentrum der Großen Rezession standen, werden einfach als irrelevant abgetan. 26
    Einige Ideen wirken transformativ, aber Gesellschaften und Überzeugungen wandeln sich für gewöhnlich langsam. Manchmal laufen intellektuelle und gesellschaftliche Veränderungen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ab; manchmal klaffen Anschauungen und Wirklichkeit so eklatant auseinander, dass dies zu einem Überdenken bestehender Anschauungen – oder gesellschaftlichem Wandel – zwingt.
    Veränderungsprozesse laufen oft langsamer ab, als es vielleicht wünschenswert wäre, und die langsame Entwicklung von Ideen ist eine der Ursachen dafür, dass sich Gesellschaften manchmal nur wie im Schneckentempo wandeln. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 mag der Grundsatz, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, klar und deutlich formuliert worden sein, dennoch sollten fast zweihundert Jahre vergehen, bis die Vereinigten Staaten Bürgerrechtsgesetze verabschiedeten, die diesen Grundsatz rechtsverbindlich machten, und von einer »Gesellschaft der Gleichen« sind wir noch immer weit entfernt.
    Dass sich Ideen nur langsam verändern, hängt unter anderem damit zusammen, dass Ideen und Wahrnehmungen soziale Konstrukte sind. Meine Bereitschaft, an einer Überzeugung festzuhalten, steht in Zusammenhang mit der Tatsache, dass andere ähnliche Überzeugungen hegen. Bei meinen Reisen durch die USA und die Welt verblüfft es mich immer wieder, wenn ich feststelle, dass an manchen Orten bestimmte Anschauungen Teil der herrschenden (öffentlichen) Meinung sind – etwa, dass der Staat notwendigerweise ineffizient sei oder dass die Regierung die Rezession verursachte beziehungsweise die globale Erwärmung ein Mythos sei –, während andernorts genau das Gegenteil als »die Wahrheit« gilt.
    Die meisten Menschen prüfen empirische Daten nicht selbst. Nur wenige besitzen die nötige Sachkunde, um etwa die Daten über die globale Erwärmung selbst zu bewerten, selbst wenn sie die Zeit dazu hätten. Aber die Tatsache, dass andere, mit denen sie reden und denen sie vertrauen, bestimmte Anschauungen hegen, bestärkt sie in ihrer Überzeugung, dass diese richtig sein müssen. Einige dieser gesellschaftlich konstruierten Ideen und Wahrnehmungen bilden die Linse, durch die wir die Welt sehen. Kategorien wie Rasse und Kaste sind in einigen Gesellschaften von Belang, in anderen dagegen nicht. Doch diese »Ideen« haben, wie schon erwähnt, reale Konsequenzen, die sehr beständig sein können.
    Gesellschaften können an bestimmten Überzeugungen »kleben«, mit der Folge, dass sich die Anschauungen jedes Einzelnen nur dann verändern, wenn hinreichend viele andere ihre Meinung ändern; ist das nicht der Fall, ändern sich diese Überzeugungen nicht.
    Wenn man Ideen und Wahrnehmungen als gesellschaftliche Konstrukte auffasst, lässt sich auch erklären, warum sich gesellschaftliche Anschauungen manchmal recht schnell verändern. Wenn aus irgendeinem Grund genügend Menschen eine neue Idee attraktiv finden, kann es zu einem abrupten Umschlag kommen,

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