Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht (German Edition)
so dass die Idee Teil einer neuen »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« wird, zur neuen herrschenden Meinung. Die Idee von der Existenz rassischer Unterschiede wird dann von einem Konzept, das zu beweisen ist, zu einem Konzept, das zu widerlegen ist. Oder es kommt zu einem abrupten Meinungswandel hinsichtlich der Auffassung, Ungleichheit sei notwendig für das Funktionieren einer Marktwirtschaft, so dass diese der Überzeugung weicht, die gegenwärtig weit geöffnete Schere zwischen Arm und Reich in Amerika beeinträchtige die Funktionstüchtigkeit unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft. Die neuen Ideen finden Eingang in die herrschende Meinung, bis eine andere geistige oder faktische Strömung das intellektuelle Gleichgewicht stört.
Der gesellschaftliche Kontext von Überzeugungen ist entscheidend. Wenn verschiedene Gruppen kaum interagieren, entwickeln sie mitunter unterschiedliche Wahrnehmungen der Wirklichkeit. So verhält es sich mit der Debatte über die Legitimität und den Grad der Ungleichheit. In einigen Gruppen (und dazu gehören die Reichen ebenso wie die Armen) ist man davon überzeugt, dass die Reichen ihr Vermögen durch eigene harte Arbeit erworben haben und dass die Beiträge anderer und Glück nur eine geringe Rolle dabei spielten; andere Gruppen sehen das genau andersherum. 27 Es ist nicht weiter verwunderlich, dass diese Gruppen unterschiedliche steuerpolitische Ansichten haben. Wenn jemand glaubt, sein Besitz sei das Ergebnis ausschließlich seiner eigenen Anstrengungen, zeigt er vergleichsweise wenig Bereitschaft, dieses Vermögen mit anderen zu teilen, von denen er glaubt, sie hätten sich absichtlich weniger angestrengt als er. Wenn jemand seinen Erfolg weitgehend glücklichen Umständen zu verdanken glaubt, ist er eher bereit, sein Vermögen zu teilen.
Die politische Auseinandersetzung als Kampf um die Wahrnehmungen
Die politische Auseinandersetzung ist in einem bemerkenswerten Ausmaß ein Kampf darum, welche Wahrnehmung sich durchsetzt. Im Folgenden geht es um drei große politische Auseinandersetzungen der letzten Jahre: um die Abschaffung der Erbschaftsteuer, die Bankenrettung und die Restrukturierung von Hypotheken. Um die beiden letztgenannten Fragen wurde in den Diskussionen über die angemessene Reaktion auf die Finanzkrise 2007/8 gerungen. Alle drei sind von zentraler Bedeutung, wenn wir verstehen wollen, wie die Ungleichheit in den USA die heutigen Dimensionen annehmen konnte. Ohne eine Erbschaftsteuer erschaffen wir eine neue Plutokratie, die durch sich endlos fortsetzende Erbdynastien gekennzeichnet ist. Das Bankenrettungspaket stellte dem Finanzsektor – einer der wichtigen Einkommensquellen für die Reichen – Geld zur Verfügung. Und die unzureichende Hypothekenrestrukturierung verschärft die ökonomische Belastungssituation in den unteren und mittleren Einkommensgruppen.
Rekapitalisierung der Banken
Im Verlauf der Finanzkrise sahen wir, wie die Banken die öffentliche Wahrnehmung zu lenken versuchten. Man sagte uns, wir müssten die Banken retten, um die Wirtschaft zu retten – um unsere Arbeitsplätze zu schützen, auch wenn uns die Rettungspakete noch so gegen den Strich gingen; dass, wenn wir den Banken Auflagen machten, dies für erhebliche Turbulenzen an den Märkten sorgen und es uns allen schlechter gehen werde; dass wir nicht nur die Banken, sondern auch die Banker retten müssten, die Aktionäre der Banken und die Anleihegläubiger gleich mit. Natürlich gab es Länder wie Schweden, die anders verfuhren, die sich an die Regeln des »Kapitalismus« hielten und Banken mit unzureichender Kapitaldecke unter staatliche Verwaltung stellten, gleichsam ein Insolvenzverfahren für Banken mit dem Ziel, die Einleger zu schützen und die Bankaktiva zu erhalten; aber das waren »sozialistische« Länder. Dem schwedischen Beispiel zu folgen war nicht »amerikanisch«.
Obama machte sich diese Argumentation zu eigen; indem er sie wiederholte, verlieh er ihr eine Aura der Glaubwürdigkeit. 44 Aber sie war nicht stichhaltig und sollte lediglich den größten Vermögenstransfer in der Geschichte akzeptabel machen: Noch nie in der Geschichte des Planeten haben so viele so wenigen, die so reich waren, so viel gegeben, ohne die geringste Gegenleistung zu verlangen.
Die Frage hätte ganz anders formuliert werden können. Man hätte argumentieren können, der wahre amerikanische Weg sei die Herrschaft von Recht und Gesetz. Und das Gesetz war eindeutig: Wenn
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