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Der Preis des Lebens

Der Preis des Lebens

Titel: Der Preis des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Endres
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des Sees auf und sprang wie eine Libelle voran, bevor er ganz unterging. Die Bläschen, die noch im selben Atemzug an just jener Stelle aufstiegen, bemerkte Visco nicht. Auch als dort im Wasser ein dunkler Schemen an die Oberfläche stieg und als verschwommener Schatten aufs Ufer zuschoss, ruhte Viscos Blick trübsinnig auf der Vergangenheit.
Erst als aus Richtung des Sees ein lautes Platschen zu vernehmen war und irgendetwas Visco kurz darauf am Knie traf, schrak der Vampir aus seiner verdrießlichen Grübelei.
Sein Blick wanderte nach unten. Der feucht glänzende, nun dunkelgraue Stein lag zwischen seinen Füßen im Ufergras.
Visco betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.
»Der gehört Euch, schätze ich.« Visco hob den Kopf und spähte verwirrt an all dem Glitzern und Funkeln auf der Wasseroberfläche vorbei. Mit einiger Mühe erkannte er ein blasses Frauengesicht im kühlen Nass, zwei, vielleicht drei Meter von der niedrigen Böschung entfernt. Lediglich Stirn, Nase und Mund spitzten aus dem Wasser; der Rest des Körpers wurde vom Schatten der Böschung und ein paar Seerosen gut verborgen. Nur wenn Visco ganz genau hinsah, erkannte er auch den Rest des Körpers: Zarte Rundungen und schmale Hüften, dunkles nasses Haar und einen Unterleib, der trotz aller Bemühungen des Vampirs nur ein verschwommener Schattenriss im Wasser blieb.
Visco ahnte trotzdem, was er da vor sich hatte.
»Guten Tag, Tochter des Meeres«, grüßte er die Nixe mit aufgesetzter Höflichkeit und neigte lakonisch das Haupt.
Mit der nächsten sanften Welle, die gegen das Ufer schwappte, schälte sich die Meerfrau ein Stück weiter aus dem Wasser, sodass Visco doch noch etwas mehr von ihr erkennen konnte: Sie hatte ein ebenso hübsches wie junges Gesicht, auf dessen weichen Zügen allerdings ein trauriger Schatten lag; ein Schatten, der nicht zum sonnigen Gemüt passte, das man den Kindern der Ozeane sonst nachsagte.
»Ihr seht traurig aus«, sagte Visco deshalb – und weil ihn die Neugierde von seinem eigenen Kummer ablenkte.
»Tochter des Meeres, Tochter der Tränen, Tochter der verlorenen Träume.« Die Nixe zuckte unter Wasser vage mit den Schultern. »Alles nass und feucht, oder?«
»Hmmm. Auch das klingt ziemlich traurig, wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet. Sehr traurig sogar. Erst recht für die Herrin dieses wunderschönen Fleck ...«
»Ich bin nicht die Herrin dieses Sees!«, fiel ihm die Nixe da unerwartet heftig ins Wort. Anschließend stieß sie sich mit einigem Platschen und Spritzen nach hinten ab, tauchte unter Wasser und schwamm erregt drei Mal im Kreis, bevor sie wieder näher ans Ufer und ferner an die Oberfläche kam, wo sie Visco halb schmollend, halb verletzt ansah. »Sagt das nie wieder!«, fauchte sie wütend und strich sich das strähnig an ihrer milchigen Haut klebende Haar aus dem Gesicht.
»Ich wollte Euch nicht beleidigen«, versicherte Visco der Nixe schnell, obwohl er ihren Ärger nicht verstehen konnte. »Verratet Ihr mir, was so schlimm daran wäre, einen Ort wie diesen sein Reich zu nennen?« Er machte eine ausholende Geste mit dem Arm, die nicht nur die Wasserfläche, sondern auch das Ufer und die langsam verblühende Schönheit der Spätsommerwiese mit einschloss. »Es ist wunderschön hier«, schwärmte Visco, und er meinte es ehrlich.
»Zumindest ganz nett, das stimmt wohl«, entgegnete die Nixe hochnäsig und bestätigte damit wenigstens das Gerücht, dass die Kinder der Gezeiten zum Hochmut neigten. »Doch ich bin eine Tochter des Meeres . Ich gehöre nicht in einen See wie ein Fisch in einen Teich. Ich gehöre in den Ozean, wo meine Freunde, meine Schwestern und meine Liebhaber mit mir im Mondschein in den Wellen tanzen und singen und lachen.« Bei diesen Worten verschwand aller Hochmut aus ihrer Stimme, als hätte eine Welle ihn hinfort gespült. Nun klang die Meerfrau fast wie ein trauriges, verängstigtes Mädchen. »Im Frühling bin ich in eine Bucht geschwommen und habe die Flüsse an der Küste erkundet. Immer weiter schwamm ich ins Landesinnere. Es war ein Abenteuer, wie sie die Muschelhändler zu Tausenden erleben und uns nachts in der Brandung davon berichten, um in uns die Sehnsucht nach der Fremde zu wecken. Nun, ich schwamm weiter, weiter und noch mal weiter. Irgendwann fand ich diesen Ort, und zunächst war ich wie Ihr von ihm und seiner Schönheit bezaubert. Ich blieb eine Weile, lernte den See kennen und schloss mit seinen Bewohnern Freundschaft. Ich sprach mit den ältesten Forellen und

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