Der Preis des Lebens
Welsen tief unten am Grund, mit der Otterfamilie und ihrem frechen Nachwuchs auf der anderen Seite des Sees, mit den Eisvögeln und Reihern und Enten und Schwänen, aber auch mit den Rehen und Hasen und Füchsen und Dachsen und all den anderen Tieren, die früh am Morgen herkommen, um ihren Durst zu stillen. Auch lernte ich, den leise gewisperten Geschichten der alten Trauerweide dort drüben zu lauschen. So wurden aus Tagen Wochen, und aus Wochen schließlich ein ganzer Monat. Danach gelüstete es mich langsam aber sicher doch wieder nach der Gesellschaft meiner Brüder und Schwestern, und so verabschiedete ich mich von meinen neuen Freunden und schwamm flussabwärts, meiner Heimat entgegen.« Der Schatten auf ihren Zügen verdunkelte sich zusehends. »Doch ach! Ich konnte nicht mehr zurück! Ein Stück flussabwärts haben die Menschen aus einem der Dörfer hinter dem Wald im Sommer einen Damm gebaut, um das Wasser umzuleiten und damit ihre Felder zu bewässern. Eine wuchtige Mauer mitten im Fluss, aus Stein und Holz und Mörtel, gegen die selbst meine Freunde die Otter und Biber nichts tun konnten. Ich kann auch nicht darunter hinwegtauchen oder darüber hinwegspringen. Und so bin ich auch heute noch hier. Jeden Tag schwimme ich zum Damm und schaue, ob sich nicht doch etwas verändert, die Unermüdlichkeit der Gezeiten nicht doch etwas bewirkt hat. Bisher war es stets vergebens. Also sitze ich weiterhin hier und warte, dass die Strömungen mit jedem Tag kühler werden und der Herbstwind bald schon bunte Blätter in den See weht, bis am Ende der Winter Einzug halten wird. Und mit ihm das Eis ... und der kalte Tod.«
Visco und die Nixe tauschten einen langen Blick jenseits menschlichen Verständnisses aus. Die Angst vor den Qualen der Vergänglichkeit im Schatten der Unsterblichkeit einte sie.
»Kann ich etwas für Euch tun?«, fragte Visco nach einer Weile leise und wandte als erster den Blick ab.
Die Nixe schwamm erneut ein Stück auf den See hinaus, drehte ihre nervösen Kreise im Wasser und kam mit etwas mehr Schwung als die Male davor zurück an die Oberfläche. Für einen kurzen Moment sah Visco sie bis zum Bauchnabel, wo unterhalb eines Perlmuttschmuckstücks ihre helle Haut in feine, silberblaue Schuppen überging.
»Ich möchte keine leeren Versprechungen und keinen falschen Trost«, sagte die Tochter des Meeres schließlich würdevoll. »Und ich möchte auch kein Mitleid. Aber ... könntet Ihr mir einen Blumenstrauß pflücken? Hier kommen nicht viele Reisende vorbei, und Herbst und Winter, egal ob meines Lebens oder der Welt, sind nahe. Es könnte das letzte Geschenk sein, das ein Mann mir macht ...«
Visco erhob sich und sah die Nixe fest an.
»Es soll der schönste Strauß werden, den alle sterblichen und nichtsterblichen Augen jemals erblickt haben«, sagte er feierlich ernst und wandte sich vom Ufer ab.
*
»Was machst du da?«
Visco erschrak nicht, als Lorns Stimme unmittelbar hinter ihm ertönte. Der Vampir hatte seinen Partner längst bemerkt.
»Sieht man doch«, gab Visco entsprechend gelassen zurück, währenddessen er sich erneut nach vorn beugte und mit spitzen Fingern eine weitere Wildblume aus dem Gras klaubte.
Der Schatten mit den dornigen Schultern neben ihm verschränkte streng die Arme vor der Brust.
»Normalerweise machst du das nur, wenn du ein Mädchen flachlegen willst«, meinte Lorn unverblümt .
Visco schmunzelte still in sich hinein.
Während der Vampir am Ufer neue Bekanntschaften geschlossen hatte, hatte sich der Jagam unmittelbar nach dem Absatteln ihrer Pferde in den nahen Wald begeben, um die Gegend zu erkunden. Also erzählte Visco Lorn in knappen Worten, was es mit den Blumen auf sich hatte.
Lorns anschließende Reaktion fiel recht eindeutig aus.
»Du pflückst Blumen für eine Fischfrau? «
Visco zupfte gelassen eine dunkle Mohnblume zurecht, die schräg aus seinem Strauß ragte, und erhob sich zunächst ohne ein Wort. »Du bist ein herzloser Bastard und wirst es immer bleiben«, erklärte der geläuterte Vampir dann im Vorübergehen mit kalter Stimme und stolzierte hoch erhobenen Hauptes zurück in Richtung See, wo die Nixe bereits mit leuchtenden Augen auf ihren blassen Blumenkavalier wartete.
*
Lorn saß bereits im Sattel und wartete am Waldrand.
Sein mürrischer Blick glitt abermals in Richtung des kleinen Sees, der im Licht der späten Nachmittagssonne wie ein mit Diamantstaub bestreuter Spiegel funkelte.
Visco kniete immer noch wie ein galanter Prinz im Ufergras und
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