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Der Preis des Lebens

Der Preis des Lebens

Titel: Der Preis des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Endres
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Buße.
*
    Mersina starrte dem kleinen Krieger mit gerunzelter Stirn nach. Warum rannte das Kerlchen jetzt in Richtung Waldrand davon, als wären alle Ungeheuer des Waldes hinter ihm her?
Die Trollin gähnte und zuckte mit den Schultern, nachdem der Kobold wie eine Feldmaus im Unterholz verschwunden war.
»Erregbare kleine Kerle«, murmelte Mersina amüsiert, rekelte sich katzenhaft, blickte einen Moment gen Himmel und ging dann zurück in die Höhle.
Dort fiel ihr Blick auf die beiden Männer, die noch neben der von ihr zurückgelassenen Mulde halb unter den Fellen lagen und tief und fest – erschöpft – schliefen.
Ein erwartungsfrohes Lächeln stahl sich auf Mersinas exotisch schöne Züge.
»Aufstehen, meine Süßen«, gurrte sie und ging in die Hocke, um den beiden zärtlich über den Rücken zu streicheln. »Aufstehen! Eurer Göttin gelüstet nach Frühstück ...«

Kapitel IV: Ein letztes Geschenk für die Tochter der Tränen

Der See war nicht allzu groß. Wenn Visco sich anstrengte, konnte er sogar die gestaffelten Reihen der Schilfsoldaten am gegenüberliegenden Ufer erkennen, die vom Wind mal in diese, mal in jene Richtung kommandiert wurden. Doch das Spiel der Sonnenstrahlen auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche zwischen den nahen Ufern war zu reizend, als dass Visco sich die Schönheit dieses malerischen Anblicks von irgendeinem unangebrachten Größenvergleich hätte kaputt machen lassen.
Der Vampir ging ganz in diesem Anblick auf. Das Sonnenlicht wärmte seine Seele wie einen Stein, der lange im Schatten gelegen hatte, während das leise Flüstern der Wellen und der melancholische Duft der Spätsommerblumen Viscos Sinne schmeichelten und liebkosten.
Visco schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Genugtuung und Dankbarkeit durchfluteten ihn zusammen mit der schweren Süße der Blumen, derweil die warmen Sonnenstrahlen weiter seine blassen Wangen streichelten.
Wann hatte er in seinem alten Unleben schon einen solch ausgeglichenen, perfekten Moment des Glücks und der Zufriedenheit genießen können?
Obwohl seine Läuterung inzwischen vier Jahre zurück lag, war sich Visco DeRául der Besonderheit solcher Augenblicke immer noch bewusst. Ihrer Besonderheit ...
Und ihrer Vergänglichkeit.
Allerdings wusste Visco auch, dass das Leben nun mal das allzeit erhobene Schwert der Endlichkeit brauchte, damit die kleinen Dinge zu etwas Besonderem werden konnten. Wahrscheinlich wusste niemand besser um die Vergänglichkeit des Seins und aller Schönheit, als ein auf die Seite des Lebens und damit des Todes – zurückgekehrter Unsterblicher.
Visco merkte, wie sich mit dieser Feststellung ein Hauch von Bitterkeit in seine Gedanken schlich. Sicher, Wunden und Krankheiten heilten bei ihm nach wie vor schneller, und Gift und Rauschmittel konnten ihm so gut wie nichts anhaben. Nugals Magie hatte mit Hilfe des Rituals damals sogar verhindern können, dass das Leben sich sofort zurücknahm, was Visco der Zeit über zweihundert Jahre lang vorenthalten hatte. Doch auch Viscos Zeit auf Erden würde irgendwann enden, jetzt, nachdem er hinter die Schattengrenze zurückgekehrt war, wo Leben und Tod klar definiert waren.
Viscos Blick strich über den See. Plötzlich führte ihn dessen Schönheit nur allzu deutlich vor Augen, dass er auf seinen Reisen viel zu selten wirklich die Muße besaß, solche Dinge mit Sinn und Verstand zu betrachten.
Ihm kam der Gedanke, dass es irgendwann zu spät sein könnte, damit anzufangen. Und dass es niemanden gab, mit dem er einen solchen Anblick teilen und dadurch unsterblich machen konnte.
Von einer Sekunde auf die nächste verschlossen sich Viscos Sinne vor der Schönheit um ihn herum. Das Sonnenlicht schien ihn nicht mehr zu erreichen, das Klangspiel der Wellen und des Windes nur noch aus weiter Ferne zu kommen. Seine Gedanken rannten voller Verzweiflung zurück in die Finsternis seiner Erinnerungen und suchten dort in der ewigen Schwärze seiner Sünden nach einem ganz bestimmten Bild. Einem Porträt.
Almacya. Viscos Hochstimmung ertrank in einem See dunkler, schmerzhafter Erinnerungen und dem Strudel der Einsamkeit.
Gedankenverloren schlurfte er ans Wasser. Am Ufer angekommen, bückte er sich und griff lustlos nach einem flachen, von der Sonne erwärmten Stein. Er wog ihn eine Weile nachdenklich in der Hand, ehe er die Felsscheibe aus dem Handgelenk heraus ins Wasser warf. Kümmerliche drei Mal setzte der Stein klatschend auf der glitzernden Oberfläche

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